Chronik/Wien

Sagenhafter Stadtführer: Wo in Wien der Lindwurm schnarcht

Ein tiefes Scharren hallt durch den diesigen Wald am Rande der Dollwiese in Ober Sankt Veit. So laut, dass die pfeifenden Vögel und der nieselnde Regen scheinbar verstummen. Das Geräusch ist durchdringend. Als ob hier, am Rande des Lainzer Tiergartens, gerade ein Monster erwacht wäre.

Nur wenige Meter weiter die Entwarnung: Ein Mann in orangefarbenem Overall zieht einen großen Container über den Schotterweg. Es ist die Müllabfuhr. Fürchten muss sich hier also niemand. Zumindest heute.

Im Mittelalter verschwanden an dieser Stelle Männer, Frauen und Kinder. Spurlos. Denn in einer Linde hauste ein grausames Monster: ein Lindwurm mit sieben Köpfen. Und mit großem Appetit.

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Geschichten wie diese hat die Wiener Autorin Sophie Reyer in ihrem neuen Buch „111 Wiener Orte und ihre Legenden“ (Emons Verlag; 17,50 Euro) gesammelt. Der Stadtführer soll Touristen, aber auch Einheimische animieren, die mythische, dunkle und manchmal brutale Seite Wiens zu entdecken.

Wie am Stadtrand auf der Dollwiese. Oder wie in der Inneren Stadt – in der Blutgasse. Im Jahr 1312 sollen dort Mitglieder des Templerordens aufs Brutalste getötet worden sein.

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Das Blut, so die Legende, floss in Strömen über das Pflaster. Nicht ohne Folgen: Die Geister der toten Templer sollen die Gasse bis heute regelmäßig aufsuchen.

Parallele zu Game Of Thrones

Ob wahr oder erfunden – solche Erzählungen werden immer ihre Anhänger haben, ist Autorin Reyer überzeugt. „Die Menschen wollen derartige Geschichten. Das sieht man an Harry Potter oder Game of Thrones“, erzählt sie beim Lokalaugenschein auf der Dollwiese.

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Der Grund: Die Sagen erfüllen – heute wie in der Vergangenheit – einen ganz bestimmten Zweck, sagt Reyer. „Früher dienten Legenden der Unterhaltung und dazu, die Welt zu verarbeiten“, sagt Reyer.

Soll heißen: Alles Unverständliche – sei es ein ungewohntes Geräusch oder ein seltsames Licht – wurde mit Geschichten erklärt.

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Dieses Prinzip gelte bis heute: „Die Wissenschaft kann zwar Fakten präsentieren, aber nicht die Dinge im Zwischenraum erklären. Zum Beispiel, warum wir lieben oder warum wir Angst haben.“ Sagen behandeln genau diese „Ur-Fragen“, sagt Reyer.

Monster statt Barbie

Reyers Lieblingssage ist jene vom Basilisken, der einen Brunnen in der Schönlaterngasse im ersten Bezirk bewohnte: „Ich bin ein Monster-Fan.“ Als Kind habe sie statt Barbie-Puppen lieber Dinosaurier gesammelt.

Die Affinität schlug sich im Buch nieder: Der Lindwurm und der Basilisk sind nicht die einzigen Monster, von denen Reyer erzählt. Auch Hexen, Dämonen und Teufel treiben auf 240 Seiten ihr Unwesen.

Etwa in der Wiedner Hauptstraße. Ein „Waldteufel“ soll dort Schrecken verbreitet haben – bis ihn die mutige Fassbinder-Tochter Elsbeth mit einem magischen Sessel fing. Der Engelbrunnen vor Haus Nummer 55 erinnert daran.

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Recherchiert hat Reyer die Legenden unter anderem im Stadtarchiv. Für jeden Bezirk hat sie mindestens eine Sage aufgetrieben – mit Ausnahme von Rudolfsheim-Fünfhaus. Warum für diesen Bezirk offenbar keine existiert, kann sich selbst die Sagen-Expertin nicht erklären.

Ob sie sich mit all ihrem Wissen nun fürchte? Reyer verneint: „Ich wusste immer schon, das Wien morbid ist.“

Happy End für die Hietzinger

Das Problem mit dem Lindwurm hat übrigens ein mutiger Einsiedler gelöst: Als das Monster ein zartes Mädchen entführte, machte sich ein heiliger Mann namens Veit auf die Suche.

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Die Drachenhöhle war leicht zu finden, denn das Monster schnarchte laut. Sankt Veit – er findet sich im Namen zweier Hietzinger Bezirksteile – schlich hinein und pendelte sein Kruzifix über dem Haupt des Lindwurms.

Und siehe da: Der Lindwurm stieß ein klägliches Schnauben aus – und starb.