54 Prozent der Ärzte leiden unter Burn-out
Die Infusionsflasche mit der tödlichen Lösung hing noch an einem Gebüsch neben der Leiche. Matthäus W., 41, Allgemeinmediziner aus der Privatklinik Rudolfinerhaus hat seinen Freitod auf dem Wiener Kobenzl oberhalb Grinzings geplant.
Wie berichtet fanden Sonntagmittag zwei Wanderer den Toten im Unterholz. Er war seit 28. Dezember 2012 als vermisst gemeldet.
Sein Bruder, Sebastian W. glaubt im KURIER-Telefonat den Auslöser des Freitodes zu kennen: „Matthäus hatte noch über 100 Urlaubstage stehen. Und er arbeitete bis zu 100 Stunden pro Woche. Er erwähnte mir gegenüber, dass er sich in einer Abwärtsspirale fühlt und dass es Probleme mit den ärztlichen Vorgesetzten gibt.“
Die Pressesprecherin des Rudolfinerhauses, Gabriela Würth, bestätigte Gespräche zwischen Matthäus W. und der Chefetage des Privatspitals: „Herr Doktor W. war im Haus angestellt und behandelte darüber hinaus auch seine Privatpatienten. Er führte ja auch zwei Privatpraxen. Ihm wurde mehrfach nahegelegt, Urlaub abzubauen, sonst würde er weiter verfallen.“ Für Sebastian W. stellt dieses Statement nur einen Teil der Wahrheit dar: „Es muss aber auch noch weitere Schwierigkeiten gegeben haben.“
Schon in der ORF-Sendung „Report“ wurde dieses Thema angeschnitten. Damals erklärte der Präsident des Rudolfiner-Vereins, der Spitzenmediziner Ernst Wolner: „Es gab Auffassungsunterschiede wie woanders auch, aber keine Probleme.“
Burn-out bei Ärzten
Laut einer aktuellen Online-Umfrage der Ärztekammer (bundesweit nahmen 6249 Mediziner daran teil), befinden sich 54 Prozent der Befragten in den unterschiedlichen Phasen des Burn-outs. Ein Drittel davon in der dritten Phase. Spätestens ab dieser Stufe ist medizinische Hilfe unumgänglich. Ein Vergleich: Bei Richtern sind 40 Prozent Burn-out-gefährdet.
Wiens Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres will die Problematik in der Ärzteschaft gleich gar nicht beschönigen: „Es ist bereits bedrohlich. Vor allem bei jungen Kollegen und arrivierten Medizinern.“ Szekeres kritisiert Dienstgeber und Spitalserhalter: „Arbeitszeitregelungen müssen eingehalten werden. Die Grundgehälter bei Jungärzten sind niedrig. Nur mit Nacht- und Wochenenddiensten sowie mit Überstunden kommen die Kollegen auf einen akademischen Durchschnittsverdienst.“ Zusätzlich müssten Mediziner auch viele administrative Aufgaben erledigen.
Andererseits appelliert er aber auch an die Ärzte: „Die Kollegen sollen sich nicht selbst ausbeuten, denn es geht nicht immer nur ums Geld.“
Interview: "Ein ,Danke‘ hören Ärzte selten“
Arbeitspsychologe Gerhard Klicker kennt Stress am Arbeitsplatz. Der Geschäftsführer der IBG (Innovatives betriebliches Gesundheitsmanagement) berät auch Mitarbeiter von Krankenhäusern.
KURIER: Stress und Überarbeitung dürften die Ursache für den Freitod von Matthäus W. gewesen sein. Wie Burn-out-gefährdet sind Ärzte?
Speziell in Spitälern pfeifen die Ärzte aus dem letzten Loch. Das hat sich in den vergangenen zehn, 15 Jahren zwar verbessert. Aber da liegt der Fehler im System.
Sind Ärzte besonders betroffen?
Das trifft alle helfenden Berufe. Also auch Coaches oder Lehrer. Sie geben viel, bekommen aber wenig zurück. Sie haben viel Verantwortung. Ein ,Danke‘ hören sie selten. Geht aber etwas schief, geht’s ihnen an den Kragen. Ein Allgemeinmediziner hat bis zu 120, 140 Patienten täglich. Da schaltet er auf Durchzug. Ist man erst in dem Strudel drin, kriegt man einen Tunnelblick. Dazu kommt Perspektivenlosigkeit. Ein Arzt kann nicht so einfach umschulen. Das Burn-out hat zwölf Stadien. Das ist eine langfristige Entwicklung. Freunde und Beziehungen verabschieden sich, Hobbys gehen flöten.
Aber Dr. W. hatte Konzertkarten und eine New-York-Reise gebucht.
Suizide sind in der Regel geplant. Die Betroffenen schließen oft schon zwei, drei Wochen vorher mit dem Leben ab. Ein Termin oder eine Reise sind dann egal.