Können neun Schüsse Notwehr sein?
Von Michael Berger
Mordversuch und Notwehrüberschreitung. Diese Anklagepunkte standen Dienstagvormittag beim gerichtlichen Lokalaugenschein in Wien-Rudolfsheim-Fünfhaus im Raum. Dabei sollte geklärt werden, was genau am 7. März in der Goldschlagstraße 29 passiert ist.
Wie berichtet, war die Polizei in den Morgenstunden dorthin beordert worden. Eine 37-jährige Bewohnerin glaubte, dass es in ihrer Wohnung brennt. Die Feuerwehr war bereits in der Wohnung, konnte aber keinen Brand lokalisieren.
Fünf Polizisten betraten die kleine Küche. Darin befand sich auch eine Dusche mit zugezogenem Plastikvorhang. Als die Beamten in der engen Küche standen, stürzte die Bewohnerin mit zwei Küchenmessern bewaffnet (30 Zentimeter lange Klingen) durch den zugezogenen Duschvorhang auf die Polizisten los. Sie stach von oben auf den ersten Polizisten ein. Der stürzte.
Sein Kollege zog die Dienstwaffe und schoss der Tobenden ins Bein. Doch die Angreiferin (sie leidet mutmaßlich an einer Angstpsychose) attackierte den zweiten Polizisten. Der schoss noch einmal – und traf wieder. Mit nur mehr einem Messer bewaffnet griff die Frau die nächsten Beamten an. Insgesamt wurde die 37-Jährige von neun Projektilen getroffen, erst dann brach sie im Wohnzimmer zusammen.
"Alles richtig gemacht"
Der Lokalaugenschein sollte klären, ob der Beamte (34) – er ist seit etwa zwei Wochen wieder im Dienst – der Situation entsprechend gehandelt hat. Seine Anwältin Astrid Wagner hat nicht den geringsten Zweifel: „Er weiß, dass er alles richtig gemacht hat. Auch wenn es ihm nicht gut geht. Er erkundigt sich beinahe täglich nach dem Gesundheitszustand der angeschossenen Frau. Wir gehen von Notwehr aus.“
Teilen die Sachverständigen, darunter auch der Ballistikexperte Ingo Wieser, diese Einschätzung nicht, muss der Polizist mit einer Anklage wegen Notwehrüberschreitung bzw. fahrlässiger Körperverletzung rechnen. Für den Sprecher der Staatsanwaltschaft Thomas Vecsey ist „noch alles offen“. Gleiches gilt für die eventuelle Anklage wegen Mordversuchs gegen die lebensgefährlich verletzte Frau. Auch hier sind psychiatrische Sachverständige am Wort. Ergebnisse werden frühestens in einem Monat erwartet.
Die Familie der Frau möchte sich nicht zum Gesundheitszustand äußern, bangt aber weiterhin um ihr Leben. Denn sie liegt noch immer auf der Intensivstation und wartet auf weitere Operationen. Der Polizist unterzieht sich seit 14 Tagen einer Gesprächstherapie.