Chronik/Wien

Gefängnisseelsorger berichtet über radikale Muslime

Ob Bombenbauer für den IS-Terror, Hassprediger, Kriegsheimkehrer oder Schwesternmörder aus vermeintlich religiösem Motiv – Ramazan Demir kennt sie alle. Mit seinem neuen Buch „Unter Extremisten“ (erschienen im "edition a"-Verlag; 21,90€) gewährt der Leiter der islamischen Gefängnisseelsorge nun Einblick in die Lebenswelten muslimischer Häftlinge in Österreich. Und er führt aus, warum diese immer mehr werden. Demir will das Buch als einen „letzten Weckruf“ verstanden wissen. Denn nach Morddrohungen gegen ihn zieht sich der Lehrer und Imam aus der aktiven Seelsorge zurück.

KURIER: Herr Demir, Sie schreiben, Österreichs Gefängnisse seien „Brutstätten der Radikalisierung“ und dass der Staat dies nach wie vor nicht erkannt habe. Wie konnte es dazu kommen?
Demir: Wir haben da drei Baustellen. Erstens sitzen in die Haftanstalten Menschen, für die Religion eine Bedeutung hat, aber deren Bedürfnis danach nicht ausreichend gestillt wird, weil es zu wenig hauptberufliche islamische Gefängnisseelsorger gibt. Deshalb holen sie sich ihre Informationen von Mithäftlingen – und darunter können Radikale sein. Zweitens muss die muslimische Community in den eigenen Reihen mehr Aufklärungsarbeit leisten, damit die Menschen zwischen problematischen Traditionen, wie zum Beispiel der Auffassung, der Mann wäre besser als die Frau, und der Religion unterscheiden können. Und drittens hat die österreichische Mehrheitsgesellschaft immer mehr Angst und unterscheidet nicht zwischen Islam und Islamismus. Dadurch steigen Rechtsextremismus und Islamfeindlichkeit – und das wiederum füttert die Extremisten unter den Muslimen.

In wiefern ist nun der Staat gefragt?
Er muss dafür sorgen, dass Hassprediger in Hinterhofmoscheen nicht unsere Jugend vergiften. Außerdem bedarf es mehr hauptberuflicher Gefängnisseelsorger – wie bei den Katholiken. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde es gut, dass zusätzliche katholische Seelsorger eingestellt werden. Aber wir zahlen genauso Steuern und werden insofern trotzdem ungleich behandelt.

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Jetzt ist es aber so, dass das staatliche Vertrauen in die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) einigermaßen erschüttert ist, seit in einer niederösterreichischen Gefängnisbibliothek ein inhaltlich problematisches Buch gefunden wurde. Gibt es da mittlerweile wieder eine Annäherung?
Ja, leider hat Justizminister Wolfgang Brandstetter wegen eines Fehlers eines ehrenamtlichen Seelsorgers der IGGÖ pauschal die Zuständigkeit für die Bibliotheken entzogen und Planstellen abgelehnt (siehe auch hier; Anm.). Das hat mich sehr traurig gemacht. Die IGGÖ und die Generaldirektion der Justizanstalten suchen nun aber nach einem gemeinsamen Weg. Es bestätigen ja alle Stellen, dass unsere Arbeit wichtig ist.

Minister Brandstetter hat die Verantwortung für die Gefängnisbibliotheken der Deradikalisierungsstelle (Derad) zugesprochen. Kann diese die Aufgabe besser bewältigen?
Erst einmal ist es Schwachsinn, dass eine Deradikalisierungsstelle über die islamische Lehre entscheiden soll. Und dann untersteht Derad im Gegensatz zu uns Seelsorgern nicht der Schweigepflicht. Die Mitarbeiter müssen alles protokollieren – deshalb öffnen sich viele Häftlinge ihnen erst gar nicht. Natürlich ist Derad wichtig, aber es kann die Seelsorge nicht ersetzen. Außerdem betreut sie ausschließlich die „278er“ (der Begriff bezieht sich auf Paragraf 278b des Strafgesetzes – also die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) bzw. diejenigen, die als Extremisten erkannt worden sind. Nicht aber Diebe, Drogendealer und Co., unter denen sich noch unerkannte Extremisten befinden – die sich uns gegenüber öffnen.

Wieso lässt der Islam eigentlich so viel Interpretationsspielraum für Extremisten?
Wenn man will, kann man jede Religion missbrauchen. Dazu kommt, dass viele Muslime zu wenig über den Islam wissen. Uns begegnen da immer wieder dieselben Irrtümer.

Zum Beispiel?
Demokratie und Islam wären nicht vereinbar. Dschihad bedeute „Heiliger Krieg“ (damit ist aber auch der Kampf gegen das eigene Ego gemeint; Anm.). Scharia sei eine Herrschaftsform und nicht eine friedliche Lebensweise nach Koran und Sunna (islamische Sitten und Gebräuche). Und alle, die nicht so ticken wie wir, wären „Ungläubige“, mit denen man kein Erbarmen haben dürfe.

Und wie bringt man Häftlinge von solchen Einstellungen ab?
Erstens, indem man Vertrauen aufbaut. Und zweitens, indem man das Gegenüber zur Einsicht bringt.

Wie oft gelingt das?
Sehr oft. Weil die meisten Mitläufer sind und sehr schnell durch muslimische Autoritäten aufgeklärt werden können. Da aber kaum hauptberufliche Gefängnisseelsorger vor Ort sind, werden viele Häftlinge weiter radikalisiert. In den meisten österreichischen Gefängnissen kommt leider nur jede zweite Woche ein ehrenamtlicher Seelsorger für den Gottesdienst. Einzelgespräche und individuelle Aufklärung sind da leider nicht möglich.

Aktuell sind 2044 Muslime in Österreich inhaftiert. Anfang des Jahres waren es rund 1800. Wie erklärt sich die Zunahme?
Dafür gibt es fünf wesentliche Gründe. Der erste: Es sind, wie gesagt, nicht genug muslimische Gefängnisseelsorger vor Ort. Die religiösen Bedürfnisse der Insassen können nicht gestillt werden und dadurch können Häftlinge in die Fänge von Hetzern gelangen. Zweitens: Die muslimische Community ist sozial schwächer aufgestellt. Drittens: Flüchtlinge treiben die Anzahl der Muslime hoch. Wenn sie schnell an Geld rankommen wollen, werden sie zum Teil kriminell. Dann kommen sie wegen Diebstahls oder Drogendeals ins Gefängnis und gehen radikalisiert wieder raus. Viertens: Momentan befinden sich vor allem muslimische Länder im Krieg. Deren Ruf nach Solidarität erreicht auch die Muslime in Europa. Und da fühlt sich so mancher angesprochen, der dann „zu Hilfe“ kommen will, freiwillig in den Krieg zieht und selbst zum Mörder wird. Und fünftens – und auch das muss gesagt werden: „Ausländer“ werden von der Polizei eher angehalten und kontrolliert als Inländer.

Jetzt bezeichnen Sie ihr Buch als Ihren letzten Weckruf. Sie wollen sich zurückziehen?
Ich bleibe Leiter der muslimischen Gefängnisseelsorge, ziehe mich aber von der Arbeit an forderster Front zurück.

Der Grund waren Morddrohungen gegen Sie?
Ja, der Tropfen, der das Fass für mich zum Überlaufen brachte, war dass tschetschenische Häftlinge wegen unserer Anti-IS-Deklaration angekündigt haben, sie würden mich aus dem Weg räumen, sobald sie wieder frei sind. Dazu kommt, dass ich mich vom Staat im Stich gelassen fühle: Einerseits werde ich von Extremisten unter den Muslimen bedroht und andererseits von Rechtsextremisten und Islamhassern angefeindet. Warum soll ich mir das neben meinen Hauptjob als Lehrer antun? Ich lege meine Aktivitäten in den Justizanstalten zurück, bis uns der Bund hauptberufliche Stellen gewährt. Wir wollen ja professionell arbeiten.