Chronik/Wien

Der Schatten von Schattendorf

Am 14. Juli 1927 lösten Freisprüche in einem Strafprozess im Landesgericht Wien bürgerkriegsähnliche Zustände aus und führten letztendlich zum Ende der Demokratie. Dieser heute noch politisch bedeutsame und höchst sensible "Prozess von Schattendorf" wurde gestern, Samstag, im Landesgericht noch einmal abgehandelt. Und zwar nicht mit Schauspielern, sondern mit "echten" Richtern und Staatsanwälten.

Es ist eine Initiative von Landesgerichts-Präsident Friedrich Forsthuber, der im Rahmen einer Ausstellung über die Geschichte des Grauen Hauses unter anderem spektakuläre Fälle darstellen will. Beim Prozess von Schattendorf geht es um einen Prozess gegen drei sogenannte "Frontkämpfer", die am 30. Jänner 1927 in Schattendorf im Burgenland tödliche Schüsse abgefeuert hatten.

Es ist ein nicht alltägliches Projekt, das einigen Mut verlangt. Dieses Kapitel ist bis heute nicht vergessen. So weist etwa Staatssekretär Josef Ostermayer gerne darauf hin, dass es sich bei einem der damals Getöteten um einen Großonkel von ihm handelt.

Der Freispruch mit den verhängnisvollen Folgen erfolgte am 14. Juli 1927. Exakt 85 Jahre danach wurde das Verfahren im selben Schwurgerichtssaal noch einmal abgewickelt. Den Vorsitz führte Richter Norbert Gerstberger. Die Anklage wurde von Staatsanwalt Leopold Bien vorgetragen. Als Schießgutacher erklärte der von der Lucona-Suche und der Briefbombenaffäre her bekannte Gerichtssachverständige Ingo Wieser Handhabung und Waffenwirkung.

Ausgefuchster Advokat

Die Verteidigung übernahm der bekannte Wiener Rechtsanwalt Rudi Mayer. Delikates Detail am Rande: Zeitgenössische Kritiker des Urteils vermuteten damals als Verursacher den Rechtsanwalt der Angeklagten – denn der sei ein "besonders ausgefuchster Advokat" gewesen.

Für die Rolle eines Angeklagten opferte sich Präsident Forsthuber selbst. Weitere Rollen von Zeugen und Ortsgendarm übernahmen Rechtspraktikanten.

"Angeklagt" waren Forsthuber und seine Mitstreiter wie im zeitgenössischen Original nach dem "Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeiten durch boshafte Handlungen unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach § 87 des Österreichischen Strafgesetzes".

So wie damals galt es Samstag für das Gericht zu klären, ob die Angeklagten in böser Absicht gefeuert hätten. Oder war es Notwehr? Ungezielte Schüsse als Panikreaktion aus einer Bedrohungssituation heraus?

Originalexponate

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Die Protagonisten erhielten keine vorgefertigten Vortragstexte, sondern die Originalgerichtsakten aus dem Schattendorf-Prozess. Es ist alles noch vorhanden: Vernehmungsprotokolle, Tat­ortskizzen, Gutachten, Waffen. Gutachter Wieser zum KURIER: "Das Schießgutachten hat eine wirklich ausgezeichnete Qualität."

Mit ihrem heutigen Wissen und eigenen Worten mussten die Beteiligten ihre Vorträge bringen. Ziel der Veranstaltung war es unter anderem herauszufinden, ob heutzutage ein anderes Urteil fallen würde. Damit beschäftigten sich im Anschluss der Verhandlung Juristen und Historiker in einer Diskussion. Zu Redaktionsschluss waren die Beratungen noch im Gange.

Hintergrund: Schüsse waren der Anfang vom Ende der Demokratie

Der rechtsgerichtete Frontkämpferverband war eine von zahlreichen bewaffneten Gruppierungen der 1. Republik. Diese Frontkämpfer veranstalteten am 30. Jänner 1927 eine behördliche Werbeveranstaltung im Gasthaus Tscharmann in Schattendorf. Die Sozialdemokraten setzten eine Gegenveranstaltung im Gasthaus Moser an. Als sie erfuhren, dass die Frontkämpfer auch Unterstützung von Gruppen aus Wien erwarteten, kam es zur ursprünglich nicht geplanten Mobilisierung von Schutzbundgruppen aus Schattendorf, Baumgarten, Draßburg und Klingenbach.

120 Schutzbündler standen plötzlich vor den zahlenmäßig unterlegenen Frontkämpfern, es fiel ein erster Schuss. Schlägereien gab es auch am Bahnhof. Es fielen weitere Schüsse, ernsthaft verletzt wurde aber niemand.

Geladene Gewehre

Gegen 16 Uhr drangen Schutzbündler in das Gasthaus Tscharmann ein, Steine flogen gegen die Fassade. Die beiden Wirtssöhne Josef und Hieronymus Tscharmann sowie deren Schwager Josef Pinter flüchteten in die Privatwohnung des Gasthauses, in der aufgrund der Vorkommnisse vom Vormittag geladene Gewehre bereitstanden. Dann fielen die verhängnisvollen Schüsse. Mehrere zum Teil unbeteiligte Menschen wurden verletzt.

Der sechsjährige Josef Grössing aus Schattendorf und der Klingenbacher Schutzbündler Matthias Csmarits blieben tödlich getroffen in der aufgebrachten Menge liegen. Csmarits wurde von einer Schrotladung von hinten in Kopf und Nacken getroffen. Der kleine am gegenüberliegenden Straßenrand stehende Junge starb an einem Herzschuss.

An den Begräbnissen am 2. Februar 1927 in Klingenbach und Schattendorf nahmen mehr als 10.000 Menschen teil. In ganz Österreich wurde ein 15-minütiger Generalstreik abgehalten.

Anfang vom Ende

Vom 5. bis zum 14. Juli dauerte der Prozess am Landesgericht Wien gegen Josef und Hieronymus Tscharmann und Johann Pinter – und endete mit Freisprüchen. Die Empörung über diese Freisprüche führte am Tag darauf zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen: Der Justizpalast brannte ab. Die Polizei schoss in die Menge. Am Ende des Tages gab es 89 Tote und 600 verletzte Personen. Es war der Anfang einer Auseinandersetzung, die in Bürgerkrieg und Diktatur mündete.