Chronik/Welt

Terror in Kanada: Gefahr der "einsamen Wölfe"

In der Moschee der südwestkanadischen Stadt Burnaby war Michael Zehaf-Bibeau nicht länger erwünscht. Der 32-jährige Mann, der erst vor zwei Jahren zum Islam konvertiert war, störe wegen seiner Verhaltensauffälligkeit die Gebete, teilten ihm die Geistlichen mit. Worauf der junge Kanadier vor wenigen Wochen von der Bildfläche verschwand. Erst Mittwochvormittag tauchte er in Ottawas Regierungsviertel mit tödlicher Entschlossenheit wieder auf.

Schwer bewaffnet stieg Zehaf-Bibeau aus einem Auto. Erschoss einen Wachsoldaten und stürmte dann ins Parlamentsgebäude. Dort befanden sich gerade Premier Stephen Harper und andere kanadische Regierungsmitglieder, konnten aber rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Schüsse fielen, angsterfüllte Abgeordnete und Angestellte flüchteten aus dem Gebäude, ehe der Attentäter niedergestreckt wurde. Er wollte offenbar nach Syrien reisen und hätte mit den Behörden über einen Reisepass verhandelt, berichtet die Polizei am Donnerstag.

"Märtyrertod"

Der Schock über die Attacke gegen ihr Parlament trifft die Kanadier umso heftiger, als es bereits der zweite Terrorangriff mit vermutlich islamistischen Hintergrund innerhalb nur dreier Tage war: Am Montag hatte ein 25-jähriger Kanadier bewusst zwei Soldaten vor einem Einkaufszentrum nahe Montreal überfahren. Nur einer überlebte. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd durch die Polizei wurde Martin Coutoure Rouleau von der Polizei erschossen. "Er ist gestorben, wie er wollte: als Märtyrer", schilderte ein Freund des Attentäters später der Zeitung The Star.

Zwei Attentäter, die einander nicht kannten und ihre Anschläge jeder für sich planten – aber aus Sicht der Behörden beunruhigend viele Parallelen aufweisen. Beide, in Kanada geborenen jungen Männer wuchsen in Wohlstand auf – Michael Zehaf-Bibeau besuchte gar teure Privatschulen. Beide scheiterten beim Übergang in ein geregeltes Berufsleben. Immer wieder wurde der spätere Ottawa-Attentäter Zehaf-Bibeau wegen Drogenbesitzes verhaftet, mehr und mehr driftete er in die Kleinkriminalität ab, verbrachte Monate im Gefängnis.

Als beide vor Kurzem zum Islam konvertierten, kam die Wende. Doch während sich Auto-Attentäter Rouleau samt Bart und langen Gewändern sofort zum radikalen Islamisten wandelte, verstörte Zehaf-Bibeau vor allem mit seltsamen Ticks. "Ich werde vom Teufel verfolgt", ließ er seine Freunde wissen. Kanadas Behörden hatten ihn immerhin so ernst genommen, dass sie ihm Reisedokumente verweigerten. Mehrmals hatte Zehaf-Bibeau zuletzt den Wunsch geäußert, in den Nahen Osten zu fahren.

Weltweit alarmiert

Während Kanadas Behörden noch ermitteln, schrillen weltweit bereits die Alarmglocken: "Einsame Wölfe" wie die beiden jungen Kanadier können überall und jederzeit genauso gefährlich sein wie größere Terrorzellen. Allein, und ohne sich mit irgendjemand abstimmen zu müssen, planen sie ihre Angriffe. Wenden dabei "kreative" Methoden an, die zu unerwarteten Orten und Zeitpunkten viele Leben kosten können.

So geschah es etwa beim Anschlag auf den Boston-Marathon im April 2013. Drei Menschen starben, fast 270 wurden teils schwer verletzt, nachdem das Brüderpaar Dschochar und Tamerlan Tsarnaev ihre selbstgebastelten Rucksackbomben gezündet hatten. Allein in den USA starben in den vergangenen zehn Jahren 25 Menschen durch die Angriffe sogenannter "home-grown"-Terroristen mit radikal-islamischem Hintergrund. Dabei hatte die Hälfte der späteren Attentäter schon vorher unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden gestanden, konnte aber nicht an der Ausführung ihrer mörderischen Angriffe gehindert werden.

Auch in London, wo in den vergangenen Wochen Dutzende junge Männer unter Terrorverdacht verhaftet wurden, ist man auf der Hut. Dort war im Mai des Vorjahres ein britischer Soldat auf offener Straße von zwei selbst ernannten "Soldaten Allahs" regelrecht abgeschlachtet worden.

Ähnliches war offenbar auch in Sydney geplant: Dort konnte im September ein 22-jähriger australischer Muslim gerade noch rechtzeitig an seinem Vorhaben gehindert werden, irgendeinen Menschen von der Straße weg zu verschleppen und dann vor laufender Kamera zu enthaupten. Die Aufforderung dazu hatte der junge Mann telefonisch über Kontakte aus Syrien erhalten – von einem Kämpfer des "Islamischen Staates".

Er ist im Moment Kanadas absoluter Held: "Ich danke Gott für Kevin Vickers und die kanadischen Sicherheitskräfte. Echte Helden", twitterte Justizminister Peter McKay nach dem Attentat auf das Parlament, und die Parteichefin der Grünen, Elizabeth May, schrieb: "Kevin Vickers ist so ein feiner Mensch, seine Taten heute sind keine Überraschung. Bin stolz, ihn meinen Freund nennen zu können."

Die Taten des "Sergeants of Arms", des Sicherheitschefs des kanadischen Parlaments: Er soll den Attentäter in der "Hall of Honour", der Eingangshalle, vor den Fraktionsräumen gestoppt und erschossen haben. Damit dürfte er vielen Abgeordneten und Angestellten des Parlaments das Leben gerettet haben.

Der 58-jährige Vickers bekleidet das Amt, in dem er traditionell Schwert und Keule trägt, seit 2006. Davor hat er unter anderem Staatsgäste in Kanada wie Queen Elizabeth II. und Prinz Andrew begleitet und bewacht. Der Herr mit den grau-weißen Haaren ist seit 29 Jahren Mitglied der "Royal Canadian Mounted Police".

"Ich könnte kaum stolzer auf ihn sein", sagte Vickers Bruder John zu CNN. Es sei seines Wissens das erste Mal gewesen, dass Kevin Vickers seine Waffe im Dienst benutzt habe. Und Cousin Keith sagte über den Parlaments-Sergeanten: "Er ist sehr intelligent und verantwortungsvoll. Aber man sollte keinen Streit mit ihm anfangen."