Chronik/Welt

Pistorius-Prozess: Nachbarn hörten Schreie einer Frau

Während in Los Angeles alles über die Oscars sprach, war in Südafrika ein anderer Oscar im Focus der Medien. Alle Zeitungen trugen am Montag sein Gesicht oder seinen Namen auf der Titelseite.

"Oscars Verabredung mit dem Schicksal" schrieben die Pretoria News über den ersten Tag des Mordprozesses gegen den Sportler.

Am Montag startete die vielbeachtete Verhandlung in Pretoria. Erstmals in der Geschichte Südafrikas wird ein Prozess live im Fernsehen übertragen. Zwar sind die Zeugen auf eigenen Wunsch nicht im TV-Bild zu sehen, aber ihre Stimmen sind zu hören. Der Angeklagte selbst ist nur manchmal zu sehen.

Ein Unfall

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"Nicht schuldig" fühle er sich, erklärte Oscar Pistorius am Montag. Im Anzug erschien er im Gerichtssaal, in dem viele seiner Familienmitglieder bereits warteten. Auch die Familie des Opfers, Reeva Steenkamp, war im Saal. "Ich möchte Oscar in die Augen sehen", hatte June Steenkamp, die Mutter des erschossenen Models vor dem Prozess gesagt. Sie saß in der ersten Reihe.

Die tödlichen Schüsse auf Reeva Steenkamp am 14. Februar 2013 hat Oscar Pistorius abgegeben. So viel steht fest. Doch während der beinamputierte Sportler behauptet, er habe durch die Badezimmertür versehentlich auf seine Freundin geschossen – die er im gemeinsamen Bett vermutete –, beschuldigt ihn die Staatsanwaltschaft des vorsätzlichen Mordes. Er soll Steenkamp nach einem Streit absichtlich erschossen haben.

Schreie und Schüsse

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Gleich von der ersten Zeugin wurde der 27-Jährige am Montag schwer belastet. Michelle B., in der Zeit des Mordes eine Nachbarin, erklärte, dass sie in der Tatnacht Schreie eines Mannes und danach Hilfeschreie einer Frau gehört haben will. Es folgten vier Schüsse. Zuerst einer, dann drei weitere. Nach dem ersten Schuss will sie eine Pause erkannt haben. Die Hilfeschreie und die Pause würden Pistorius’ Darstellung widerlegen, dass er nicht wusste, dass Steenkamp vor der Badezimmertür stand und dass er aus Angst vor einem Einbrecher gefeuert habe.

Hunderttausende Menschen wurden via TV Zeugen, wie der Anwalt der Verteidigung Michelle B. zwei Stunden lang ins Kreuzverhör nahm. Sie passe ihre Aussagen an, behauptete er vor laufenden Kameras. "Sie wissen nicht, was Sie sagen", sagte Barry Roux. Der erste Tag lässt vermuten, dass die Verteidigung auch in der weiteren Folge hart zu den Zeugen der Anklage sein wird. Insgesamt könnten 107 Menschen aussagen. Nach dem dramatischen Ende des ersten Tages geht das Verfahren heute, Dienstag, weiter.

Südafrika kämpft mit dem Bild seines ehemaligen Nationalhelden. Pistorius, der seit seinem 1. Lebensjahr keine Unterschenkel hat, gewann sechs Mal Gold bei den Paralympics und war der erste beidseitig beinamputierte Sportler, der bei den Olympischen Spielen startete.

Als "schnellster Mann ohne Beine" wurde Pistorius von Millionen weltweit bewundert und von Luxusmarken umworben.

1986 kommt er als mittlerer Sohn einer weißen, wohlhabenden Familie zur Welt. Er wird ohne Wadenbeine geboren, später müssen beide Beine unterhalb des Knies amputiert werden. Mit speziell angefertigten Karbon-Prothesen treibt er dennoch viel Sport, im Alter von 16 Jahren beginnt er mit dem Lauftraining.

Um seine Behinderung habe seine Familie nie viel Aufhebens gemacht, sagte Pistorius der britischen Zeitung "Independent" 2011: "Meine Mutter sagte zu meinem Bruder 'Zieh Deine Schuhe an' und Oscar 'Zieh Deine Beine an' und wir treffen uns am Auto."

Als er sechs Jahre alt ist, lassen sich seine Eltern scheiden, als er 15 ist, stirbt seine geliebte Mutter. 2004 stellt der Starathlet mit eisernem Willen bei den Paralympics in Athen einen neuen Weltrekord über 200 Meter auf. 2011 startet er als erster Beinamputierter bei einer Leichtathletik-WM und holt mit der südafrikanischen Staffel über 4 x 400 Meter Silber.

Das Männermagazin GQ kürt ihn zum "bestangezogenen Mann 2011". 2012 erlangt Pistorius endgültig Weltruhm, als er bei den Olympischen Sommerspielen in London Seite an Seite mit den Unversehrten antritt. In diesem Jahr wählt ihn das US-Magazin "Time" unter die 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt.

Auf die steile Karriere folgt der tiefe Fall: Am 14. Februar 2013 feuert Pistorius in seinem Haus in Pretoria vier Kugeln durch die geschlossene Badezimmertür und tötet die 29-jährige Steenkamp, ein südafrikanisches Model. Er beteuert, er habe sie für einen Einbrecher gehalten. Am 22. Februar kommt er auf Kaution frei, seine Familie teilt mit, er sei "benommen vor Schock und Kummer". Seine Werbepartner Nike und Clarins verzichten seither auf eine Zusammenarbeit.

Die tödlichen Schüsse rücken frühere Aggressionen ins Rampenlicht: So schlug Pistorius bei den Paralympics in London vor Wut auf die Prothesen eines Kontrahenten ein. 2009 verbrachte er nach einem Übergriff auf eine 19-Jährige eine Nacht im Gefängnis. Zwei Jahre später soll er durchs Schiebedach des Autos einer Ex-Freundin geschossen haben.

Und nur wenige Wochen vor Steenkamps Tod gab er angeblich versehentlich einen Schuss ab - in einem gut besuchten Restaurant in Johannesburg. "Oscar ist sicher nicht so, wie die Leute denken", sagt seine Ex-Freundin Samantha Taylor, die beim Prozess als Zeugin auftreten soll.