Moldau: Das Land, in dem die Kinder ohne Eltern aufwachsen
Von Anna Perazzolo
Direkt hinter der Eingangstür steht ein weißer Kühlschrank. „Das ist der Neue“, sagt Igor (Name geändert). Der alte Kühlschrank hatte vor rund zwei Jahren einen Kurzschluss, woraufhin ein Großteil des Hauses abbrannte. Eigentlich wäre das Haus, das in der Nähe von Congaz, im Süden von Moldau steht, groß genug für sechs Personen. Igor, seine vier Kinder und seinen 75-jährigen Vater. Aber wegen des Feuers und weil das Geld fürs Heizen fehlt, leben sie alle zusammen in nur zwei Zimmern mit drei Betten. Bad gibt es keines, eine Küche auch nicht. Nur den weißen Kühlschrank.
Flucht ins Ausland
Um seine Familie kümmert sich Igor alleine. Seine Ehefrau ist in Russland. Wie weitere 1,2 Millionen Moldauer ist auch sie im Ausland – zum Arbeiten oder auf der Suche danach. Viele Migranten nehmen ihre Kinder nicht mit, lassen sie bei Verwandten oder allein. 34.000 Kinder im Land wachsen ohne Fürsorge auf, weil ihre Eltern im Ausland arbeiten.
- Die Organisation
Concordia Sozialprojekte wurde 1991 gegründet und ist in Rumänien, Moldau, dem Kosovo und auch Österreich tätig
- Spendenkonto
Concordia braucht für die Hilfe vor Ort Geldspenden. Diese sind an das Konto AT28 3200 0000 1318 7893 möglich
- 2,6 Millionen
Menschen leben in Moldau, einem Land kaum größer als Niederösterreich und das Burgenland zusammen. Weitere 1,2 Millionen Moldauer leben im Ausland
Grund für die Migration sind meist die fehlenden Möglichkeiten. Moldau zählt zu den ärmsten Ländern Europas. Eines von drei Kindern im ländlichen Gebiet lebt in Armut, jeder Fünfte hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Kein Geld, keine Zeit
Im Fall von Igors Frau dürfte es aber noch andere Gründe für die Auswanderung gegeben haben. Alkohol und Gewalt hätten in ihrer Beziehung eine Rolle gespielt, sagt Tatiana Uzon. Sie ist die Leiterin eines Zentrums der österreichischen Hilfsorganisation Concordia, der größten NGO in Moldau. Seit Jahren betreut Uzon die Familie. Alle vier Kinder kamen ins Tageszentrum. Die zwei Kleineren besuchen es noch immer, bekommen dort täglich warmes Essen, werden bei den Hausaufgaben unterstützt und haben Zugang zu einer Dusche. Alles Dinge, für die zu Hause das Geld und die Zeit fehlen.
Die Familie steht exemplarisch für viele, die in Moldau leben. Hilfe vom Staat können sie kaum erwarten. Wenig Budget, Korruption und uneinheitliche Richtlinien schwächen das Sozialsystem. Vieles im Land wird von NGOs getragen. Vier Millionen Euro investiert allein Concordia jährlich in Projekte in Moldau, nur rund 40.000 Euro davon schießt die Republik zu.
Die Zügel in der Hand
Erst seit Kurzem versucht der Staat, die Zügel wieder selbst in die Hand zu nehmen. Mit einer im Jahr 2023 begonnenen Reform wird versucht, das Sozialsystem zu vereinheitlichen und zu zentralisieren. Lokale Behörden wurden entmachtet und Studien in Auftrag gegeben, um erstmals zu erheben, wie die Situation im Land tatsächlich aussieht, erklärt Alexei Buzu, Minister für Arbeit und Sozialschutz.
Welche Früchte die Reform tragen wird, wird sich erst zeigen – falls sie überhaupt fortgesetzt wird. Das Land ist bekanntlich tief gespalten, auf der einen Seite die pro-europäischen Kräfte, auf der anderen die prorussischen Akteure. Zwar gewann die Pro-Europäerin Maia Sandu erst kürzlich die Stichwahl um das Präsidentenamt, allerdings handelt es sich dabei nur um einen Etappensieg. Um den bisherigen Westkurs fortzusetzen, muss Sandus Partei ihre Mehrheit auch bei der 2025 anstehenden Parlamentswahl verteidigen.
Das Ziel des Sozialministers ist jedenfalls klar: „Dass Concordia nicht mehr gebraucht wird.“ Das wird aber wohl noch etwas dauern. Nicht zuletzt deshalb, weil die NGOs das Ministerium bei der Umsetzung der Reform unterstützen, zum Beispiel bei der Schulung von Personal. Das Ministerium habe zumindest zahlreiche neue Stellen geschaffen, sie zu besetzen sei aber vor allem im ländlichen Raum schwierig, hört man mehrfach.
Arbeitsplätze
Der Hilfsorganisation Concordia selbst geht es dabei nicht viel besser. Im Zentrum in Congaz, das auch Igors Kinder besuchen, fehlt seit Jahren ein Psychologe. Ausgleichen muss das die einzige mobile Psychologin der Organisation, Daniela Preda. Sie fährt direkt zu den Familien am Land, um mit ihnen zu arbeiten. Alkohol und Gewalt seien dort nach wie vor sehr verbreitet. Das größte Problem, dass sie sieht: Dass sich die Spirale wiederholt. „Die Kinder haben in den Familien keine Vorbilder. Deswegen ist es so wichtig, mit den Eltern, falls sie überhaupt da sind, zu arbeiten. Nur sie haben wirklich Einfluss auf ihre Kinder“, sagt Preda.
Einer, der selbst ein Vorbild sein möchte ist Alexey Boboglo. Der 21-Jährige hat sein eigenes kleines Unternehmen aufgebaut. In seiner Garage vor dem Elternhaus baut er Möbel aus Metall. Sein Startkapital sowie Business-Kurse hat er über die Austrian Development Agency (ADA) erhalten, zu der er über Concordia gekommen ist.
Alexey will nicht auswandern
Im Gegensatz zu vielen seiner Freunde wollte er nicht auswandern, sondern in Moldau bleiben. Das Unternehmen – bestehend aus drei Leuten – läuft bereits so gut, dass er bald eine kleine Werkstatt mieten kann. „Ich möchte eine große Firma aufbauen, mit vielen Arbeitsplätzen“, sagt er.
Menschen im Land zu halten ist auch laut Bernhard Drumel, Geschäftsführer von Concordia, der Schlüssel. „Wir müssen schauen, dass die Erwachsenen bleiben, sonst sind es irgendwann nur die Kinder und Alten“. Ähnlich wie in Igors Familie.