Mindestsicherung im Faktencheck: "Es trifft nicht nur die Flüchtlinge"
2010, die Flüchtlingskrise war noch in weiter Ferne, einigten sich Bund und Länder auf eine einheitliche Mindestsicherung. Heute ist eine gemeinsame Lösung ferner denn je – und die bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) zum emotionalsten Thema des Wahlkampfs geworden. ÖVP und FPÖ fordern eine Deckelung auf 1500 Euro für Familien und verringerte Sätze für Flüchtlinge. Schließlich war deren Anstieg in der BMS um 40 Prozent innerhalb eines Jahres hauptverantwortlich dafür, dass sich die Länder Ende 2016 nicht mehr auf eine Fortführung einigen konnten.
"Fairnesskrise"
"Neue Gerechtigkeit" (ÖVP) und "neue Fairness" (FPÖ) lauten die Schlagwörter, die in Oberösterreich, Niederösterreich und dem Burgenland bereits beschlossene Sache sind. Dort bekommen anerkannte Flüchtlinge statt der rund 840 Euro Regelsatz jetzt maximal 580 Euro.
In Tirol und Vorarlberg wurde der Zuschuss zu den (höheren) Wohnkosten für Wohngemeinschaften gedeckelt, in Kärnten müssen Flüchtlinge (wie in Vorarlberg) nun auch Deutschkurse besuchen, wenn sie auf den vollen Satz kommen wollen. Andere Bundesländer wie Wien verzichteten bisher auf eine Anpassung.
Dass Handlungsbedarf besteht, ist evident. Seit 2012, dem ersten voll erhobenen Jahr, ist die Zahl der BMS-Bezieher insgesamt um 38,1 Prozent gestiegen, die Kosten kratzten bereits 2016 an der Milliardengrenze – Tendenz steigend, wobei der Anteil der BMS im Vergleich zum gesamten Sozialbudget noch immer gering ist. 0,9 Prozent betrug dieser im vergangenen Jahr.
Effekt noch unklar
Welche Auswirkung die unterschiedlichen Regelungen der Länder haben, ist umstritten. Die jüngsten Zahlen für 2016 weisen einen Zuwachs der Bezieher im Vergleich zum Vorjahr in NÖ von 15,1 – in Wien nur von 9,5 Prozent – aus. Wobei das letzte Wort in NÖ, an dessen Lösung sich ÖVP-Chef Sebastian Kurz orientiert, noch nicht gesprochen ist.
Aufgrund des Diskriminierungsverbotes wurden dort explizit nicht Leistungen für Flüchtlinge, sondern für Menschen, die weniger als fünf Jahre in NÖ lebten, gekürzt. Ein juristischer Kniff – der Effekt ist jedoch derselbe. Für Walter Pfeil, Professor für Arbeit- und Sozialrecht an der Universität Salzburg, liegt damit ein Fall von "mittelbarer Diskriminierung" vor. Er ist überzeugt, dass diese Lösung schon deshalb – und wegen der Verletzung von EU-Recht – keinen Bestand vor dem Verfassungsgerichtshof haben wird (siehe Artikel unten). Noch problematischer wird es bei der Obergrenze – hier sieht Pfeil neben verfassungsrechtlichen auch Bedenken in Bezug auf die Auswirkungen. Laut Sozialministerium wären von einer landesweiten Deckelung 2016 knapp ein Drittel, konkret 88.000 BMS-Bezieher, und mindestens 82 Prozent aller Paarhaushalte mit Kindern betroffen gewesen. Damit wären 50.033 Kinder um Leistungen aus der BMS umgefallen.
Für Martin Schenk von der Armutskonferenz würden dadurch "nicht nur einige Härtefälle" erzeugt. "Das ist ein strukturelles Problem." Dass davon auch viele Österreicher betroffen seien, hätten bei der Debatte viele aus den Augen verloren. "Es wird Asyl gesagt, aber dann bei allen gestrichen. Es trifft nicht nur die Flüchtlinge", sagt Schenk. Dass eine Deckelung bundesweit, also auch in Wien kommt, wo mit Abstand die meisten BMS-Bezieher leben (siehe Grafik unten), ist unwahrscheinlich. Die Mindestsicherung ist Ländersache – geändert werden könnte das nur durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Die BMS wird also Stückwerk bleiben. Dabei wären grundsätzlich alle Länder für eine einheitliche Lösung, wie ein KURIER-Rundruf ergab. Aber eben nur zu ihren eigenen Bedingungen.
Der Schulbeginn stellte Fatima vor eine unlösbare Aufgabe. Wie sollte sie Schulsachen, Kleidung und Elternbeiträge für drei Kinder stemmen? "Wir mussten uns Geld ausborgen."
Fatima und ihr Mann Yaser (Namen geändert) stammen aus dem syrischen Aleppo. Nun leben sie im Raum Amstetten. Sie sind wie 5419 Asylberechtigte von der Kürzung und Deckelung der Mindestsicherung in NÖ betroffen. 1500 Euro haben sie zu fünft seit Juni pro Monat zur Verfügung. Um 300 Euro weniger als zuvor. "Sparen können wir nicht, wir kommen gerade aus. Doch dieses Monat haben wir Finanzkrise", sagt Fatima.
Anfang 2015 ist Ehemann Yaser, er war Gemeindesekretär, vor dem Krieg geflohen. Ein Jahr später holte er Fatima, die arabische Literatur studiert hatte, sowie seine drei Töchter nach. Nach Dutzenden Bewerbungen sind sie noch immer auf Jobsuche. Mehr als 700 Euro muss die Familie allein für Miete, Strom und Internet aufwenden. "Das Geld reicht für Miete und Lebensmittel, nicht für den Rest", sagt die 36-Jährige. Lebensmittel kaufen sie im Sozialmarkt. Neue Kleidung für die Eltern oder Anschaffungen wie ein Bücherregal fürs Kinderzimmer, dass sich Fatimas Töchter im Alter von sechs, 12 und 14 Jahren teilen, sind nicht drinnen. Freizeitaktivitäten sind nur dank Gutscheinen der Gemeinde oder auf Einladung von Freunden möglich.
Fatima und ihre Familie sind das, was man integriert, nennt. Die Lehrerin spricht fließend Deutsch. Die Kinder, betont sie, sollen so aufwachsen wie ihre österreichischen Freunde. Sie besuchen die Musikschule und tanzen Ballett. Nun ist unklar wie es weitergeht. Schulausflüge etwa, sind wohl nicht mehr finanzierbar. Wünsche ihrer Mädchen nach bestimmter Kleidung oder Spielsachen, kann Fatima nicht erfüllen. "Ich sage ihnen, dass sie das bekommen, sobald ich Arbeit finde und dass sie an die Kinder in Syrien denken sollen."
Dass Sozialleistungen eingespart werden, wenn sich jemand nicht integriert, kann die 36-Jährige nachvollziehen. "Aber man kann sich nicht innerhalb von ein bis zwei Jahren ein neues Leben aufbauen." Dabei, sagt Fatima, komme sie zurecht. Mit der Wohnung habe sie Glück gehabt. Andere würden aufgrund der Situation in NÖ keine finden. Sie kenne Familie, die nach Wien ziehen mussten. "Mit vier oder fünf Kindern kannst du von 1500 Euro nicht leben."
Gegen die Kürzung der Mindestsicherung hat die Familie so wie rund 100 weitere Betroffene Beschwerde beim Landesverwaltungsgericht eingelegt. Dieses hat im Sommer beim Verfassungsgerichtshof den Antrag gestellt, die Kürzungen als verfassungswidrig aufzuheben. Das Interesse der Betroffenen an einem menschenwürdigen Leben wiegt aus dessen Sicht schwerer als die Einsparungen. Ende des Jahres könnte es eine Entscheidung geben.