Chronik/Österreich

Kinder ohne Kopftuch: „Eltern kommen nicht in den Himmel“

Fatima* ist außer Puste. Sie kommt gerade vom Fußballspielen im Park und trägt ein Liverpool-Dress. Zuhause wirft sie ihren Rucksack in die Ecke, wäscht sich und geht mit ihrer Mutter beten. Fatima kommt aus einer religiösen Familie. Ihre Eltern sind vor zehn Jahren aus Somalia nach Österreich geflüchtet, Fatima ist in Wien geboren. Sie trägt seit sie sieben ist ein Kopftuch. „Ich musste schon mit fünf ein Kopftuch tragen. Ich habe Fatima zwei Jahre länger Zeit gelassen“, sagt Fatimas Mutter Amina*. „Sie soll sich langsam an das Kopftuchtragen gewöhnen, sonst wird es später, wenn sie es offiziell tragen sollte, vielleicht komisch für sie.“

Mit offiziell meint Fatimas Mutter den Eintritt der Menstruation. Ab diesem Zeitpunkt sollten sich nach Interpretation einiger Muslime die Mädchen im Islam bedecken. „Ich bin Taxi-Fahrer“, sagt Fatimas Vater, „ich habe oft betrunkene junge Frauen unter meinen Fahrgästen. Ich möchte nicht, dass Fatima eines dieser Mädchen wird.“ In Fatimas Klasse ist sie das einzige Mädchen mit Schleier. Als sie in der ersten Klasse mitten im Schuljahr das Kopftuch aufsetzt, äußern sich weder Lehrer noch die Direktorin dazu. Im Koran wird Eltern empfohlen, ihre Kinder ab dem siebten Lebensjahr zum Gebet anzuleiten. Einige streng religiöse Muslime nehmen das als Anlass, auch das Kopftuch ab sieben vorzuschreiben. „In Somalia ist es üblich, dass Mädchen so früh Kopftuch tragen“, sagt Amina.

In Österreich dagegen ist das nicht üblich. Hierzulande wird seit Wochen über ein Kopftuchverbot an Kindergarten und Volksschule diskutiert. Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Strache sehen das Kopftuchverbot als Integrationsmaßnahme, die jungen Mädchen eine freie Entwicklung ermöglichen soll. Fatimas Eltern ärgert das: „Wieso unterscheidet man die muslimischen Kinder von den anderen?“ Tritt das Kopftuchverbot in Kraft, wird die Familie es akzeptieren: „Dann legt Fatima das Kopftuch ab, wenn sie die Schule betritt und gibt es beim Läuten wieder rauf“, sagt ihr Vater.

„Angst um Kinder“

Dounia* könnte sich nicht einmal für einen Tag vorstellen, ihr Kopftuch abzulegen. „Mein Kopftuch gehört zu mir“, sagt die 12-Jährige. Sie besucht die zweite Klasse einer privaten muslimischen Gesamtschule in Wien und trägt das Kopftuch seit der vierten Klasse Volksschule. „Ich wollte das Kopftuch schon seit der ersten Klasse tragen, aber meine Mutter hat mich nicht gelassen“, sagt Dounia. Ihre Mutter Samira* nickt, sie hat Angst um ihre Tochter: „Die Mädchen mit Kopftuch werden auf der Straße und in den Öffis beschimpft und bespuckt, das wollte ich ihr ersparen“, sagt die Kindergartenpädagogin. Doch mit zehn setzt sich Dounia durch und legt das Kopftuch an. Ihre um fünf Jahre ältere Schwester trägt auch ein Kopftuch, wie viele jüngere Geschwister eifert Dounia ihr und ihrer Mutter nach.

Dounia hat eine zehnjährige Schwester, die jetzt in die vierte Klasse Volksschule geht. Auch bei ihr wiederholt sich die Diskussion. „Wieso dürfen meine Schwestern Kopftuch tragen und ich nicht?“, jammert die 10-Jährige. Doch dieses Mal ist Amina strenger und setzt sich durch, denn die Zeiten haben sich geändert. Während viele Österreicher Angst vor dem Kopftuch und dem Islam haben, haben auf der anderen Seite auch Muslime wie Samira Angst: „Seit der neuen Regierung und der Kopftuch-Debatte haben die Übergriffe auf Musliminnen zugenommen. Vor allem wenn die Kinder alleine unterwegs sind, trauen sich die Menschen alles Mögliche.“

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Alle ihre Kinder haben eine private islamische Volks- und Mittelschule in Wien besucht. Diese sind für viele Muslime ein geschützter Raum. Doch in der Öffentlichkeit werden ihre kopftuchtragenden Töchter fast täglich Opfer von islamophoben Übergriffen. „Erst vorhin hat mir eine ältere Frau „scheiß Fetzen“ entgegengerufen“, sagt Dounia traurig. „Manchmal machen fremde Leute in der U-Bahn Fotos von mir oder sagen gemeine Dinge“, sagt die 12-Jährige.

Auch die Dokustelle für Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus verzeichnet für das Jahr 2017 eine Zunahme an Übergriffen, die sich gegen Muslime richten. Was auffällt: 98 Prozent der Angriffe richteten sich 2017 gegen Musliminnen. Das Kopftuch ist in den meisten Fällen das Symbol des Angriffs.

Unislamisch

Samira hat Dounia gesagt, dass sie das Kopftuch abnehmen soll, wenn sie alleine unterwegs ist. Doch die tunesisch-stämmige Dounia ist ein selbstbewusstes Mädchen, sie lässt sich nichts vorschreiben und trägt das Kopftuch trotz allem. Von einem Zwang wollen Mutter und Tochter nichts wissen. „Es wäre unislamisch meine Kinder zu etwas zu zwingen, sie müssen das selbst für sich entscheiden.“ Doch der Soziologe Kenan Güngör spricht hier von einem Konformitätsdruck: Wenn das gesamte weibliche Umfeld Kopftuch trägt, fällt es schwer, sich für eine andere Lebensweise zu entscheiden. (siehe Artikel unten) „Es ist ein Vorleben“, sagt Samira dazu. Das Argument vieler Feministinnen wie Alice Schwarzer, ein Kopftuch würde die Mädchen sexualisieren, findet sie absurd. „Ich trage das Kopftuch nicht, um meine Haare vor Männern zu bedecken, ich trage es, um mich näher zu Gott zu fühlen“, argumentiert Dounia.

Parallelgesellschaften

„Es heißt immer, wir Muslime bilden Parallelgesellschaften und bleiben unter uns. Aber durch solche Verbote bewirkt man genau das, dass Muslime in Privatschulen gehen oder zuhause bleiben“, sagt Samira.

Ob das Kopftuchverbot auch für Privatschulen gelten wird, ist nach Angaben des Bildungsministeriums noch nicht geklärt. Das hängt von dem Gesetzesentwurf ab, den die Regierung bis zum Sommer vorlegen wird. „Zuerst sind es die Kindergärten und Volksschulen und dann die höheren Schulen, schließlich wird ein Kopftuchverbot an Universitäten kommen“, ist sich Samira sicher. Tatsächlich hat sich Vizekanzler Heinz-Christian Strache bereits für ein allumfassendes Kopftuchverbot in Bereichen des öffentlichen Schulsystems aber auch an der Universität und im öffentlichen Dienst ausgesprochen. Das wäre für die 12-jährige Dounia, die später einmal studieren will, furchtbar.

Die Frage, ob sie das Kopftuch im Falle eines Verbots absetzen würde, überfordert das Mädchen. „Das Kopftuch gehört zu mir – mischt euch da nicht ein!“, sagt die Schülerin. In der zweiten Klasse der islamischen Mittelschule, die Dounia besucht, gibt es nur ein Mädchen, das kein Kopftuch trägt: „Wir mischen uns bei ihr auch nicht ein. Jeder soll tragen, was er will“, sagt die 12-Jährige. Samira, die selber jahrelang in einem Kindergarten gearbeitet hat, sieht in der Kopftuch-Debatte ein konstruiertes Problem: „Ich habe in unserem islamischen Kindergarten noch nie ein Mädchen gehabt, das Kopftuch getragen hat.“ Drei ihrer Töchter besuchen aktuell eine islamische Volksschule: „Selbst dort gibt es nur vereinzelt Mädchen, die Kopftuch tragen“, sagt die Pädagogin.

 

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Ibrahim Oglun, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft, spricht im Interview mit der APA von 15 Prozent der Mädchen, die in islamisch-konfessionellen Volksschulen Kopftuch tragen. Offizielle Zahlen darüber, wie viele Mädchen in Österreich in Kindergarten oder Volksschule ein Kopftuch tragen, gibt es aber nicht.

Jüngstes Gericht

Alis* kleine Schwestern gehören zu den Mädchen, die schon in der Volksschule ihr Haar bedeckt haben. Der 16-jährige Schüler hat eine sieben- und eine zehnjährige Schwester, beide gehen in eine öffentliche Volksschule und tragen Kopftuch: „Vor dem jüngsten Gericht stehen die Eltern für ihre Kinder gerade. Wenn die Kinder ihren Pflichten nicht nachgehen, indem sie kein Kopftuch tragen, kommen die Eltern dafür nicht in den Himmel“, erklärt der gebürtige Tschetschene. „Heutzutage sehe ich schon Volksschulkinder, die sich küssen. Kein Wunder, dass die dann mit 13 schwanger werden. Man muss die Mädchen früh daran gewöhnen, Kopftuch zu tragen, damit sie nicht auf solche Ideen kommen“, sagt der Schüler. Sein Freund Alen* nickt. Der 17-Jährige hat eine vierjährige Schwester. Noch trägt sie nur in der Moschee Kopftuch. „Meine Mutter sagt aber, dass sie ab der ersten Klasse Volksschule ein Kopftuch tragen wird, um sich daran zu gewöhnen“, sagt Alen, der vor vier Jahren mit seiner Familie aus dem Sandzak, dem muslimischen Teil von Serbien und Montenegro, nach Österreich gekommen ist. Das Kopftuchverbot lässt Alen und seine Eltern kalt. „Wenn das Verbot kommt, geht meine Schwester in eine Privatschule“, sagt der 17-Jährige nüchtern. „Problem gelöst.“

Eine Reportage von Melisa Erkurt. Die ungekürzte Version ist auf dasbiber.at und in der kommenden biber-Ausgabe nachzulesen.

 

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.