"Jede_ Frau": Warum sexualisierte Gewalt allgegenwärtig ist
Von Anya Antonius
Schon im Vorwort des neuen Buches "Jede_ Frau" der Schweizer Autorin und Aktivistin Agota Lavoyer steht ein Satz, der einen lange nicht loslässt: "Die Frage ist nicht, ob eine Frau irgendwann sexuell belästigt wird, sondern bloß wann und wo und von wem."
Sexualisierte Gewalt steht im Zentrum des Buches - und wie diese gesellschaftlich ignoriert, toleriert und verharmlost wird. Denn dass das ganze Spektrum sexualisierter Gewalt im Leben von Frauen, nicht-binären Menschen und trans Personen allgegenwärtig ist, heißt nicht, dass das auch als strukturelles Problem wahrgenommen wird.
Der Begriff "Rape Culture" (Vergewaltigungskultur) fasst diesen gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt zusammen. Dafür die Augen zu öffnen, ist ein Ziel der Schweizerin, die auch lange in der Opferhilfeberatung tätig war.
Tief verankert
Denn sexualisierte Gewalt wird immer wieder bagatellisiert - auch von den Betroffenen selbst. So werde oft nur "die brutale Vergewaltigung im Park" als gewaltvoller Übergriff ernstgenommen, sagt Lavoyer im Gespräch mit dem KURIER. Dabei müsse der Begriff viel weiter gefasst werden: "Es hat viel mit unserer Gesellschaft zu tun, dass viele Formen sexualisierter Gewalt gar nicht als solche registriert werden, sondern als Kompliment, als normales Verhalten, als Flirt", sagt sie.
Diese Vorstellungen sind tief in uns verankert. Man muss nur eine Zeitschrift aufschlagen. Lavoyer zitiert im Buch etwa aus Mädchen: "Nein! Jungs verstehen das Wörtchen erst, wenn man es ihnen oft genug gesagt hat. Deshalb: Hab Geduld mit ihnen!" Diese Ausgabe des Hefts ist übrigens aus dem Jahr 2017.
Zusammenhänge wahrnehmen
Dabei ist der Autorin wichtig, dass die Formen sexualisierter Gewalt nicht hierarchisiert betrachtet werden, sondern als Kontinuum. Konkret heißt das: Die Gruppe von Männern, die einer Frau im Vorbeigehen zweideutige Dinge nachruft, die grapschenden Hände, wenn man sich als Frau durch eine volle Bar drängelt, der Onkel, der beim Familientreffen einen sexistischen Witz auf Kosten der anwesenden Nichten macht, oder der Bekannte, der einem unbemerkt K.O.-Tropfen ins Getränk geleert hat - all das hängt zusammen.
"Die Hierarchisierung führt dann aber dazu, dass viele Formen der Gewalt heruntergespielt werden", sagt Lavoyer. "Der Satz, den ich in der Opferhilfe am häufigsten gehört habe war ,Mir ist etwas passiert, aber es ist sicher nicht so schlimm wie das, was anderen Frauen geschehen ist."
Früh ansetzen
Catcalling löse sicher nicht das gleiche Leid aus wie sexualisierte Kriegsgewalt, ist es Lavoyer wichtig zu betonen. Aber es mache wenig Sinn es auseinanderzudividieren, denn die Ursachen seien dieselben: patriarchale Machtstrukturen. Oder, wie Lavoyer im Buch schreibt: "Cis Männer, die im Selbstverständnis aufwachsen, dass Frauen ihnen ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebe und ihren Körper schuldeten."
Vereinfacht gesagt heißt das also: Wolle man also die Vergewaltigung verhindern, müsse man viel früher ansetzen - schon beim sexistischen Kommentar beim geselligen After-Work-Bier.
Die gesunde Wut
"Frauen wird das Lesen des Buches wohl wütend machen", sagt sie, "aber ich finde, Wut kann sehr konstruktiv sein." Frauen werde in ihrer Erziehung gerade diese Emotion abtrainiert, die so wichtig wäre, sich zu wehren. "Aber mit lieb sein und niemandem auf den Schlips treten, wird kein gesellschaftlicher Wandel herbeigeführt."
Auch Männer will Lavoyer mit ihrem Buch aktivieren, das die Rape-Culture unserer Gesellschaft auch anhand zahlreicher aktueller Beispiele erklärt. "Viele meinen, dass sie mit der Aussage ,Ich bin nicht übergriffig' schon genug gegen sexualisierte Gewalt getan haben. Dabei ist das wirklich nur das absolute Minimum."
"Jeder Mann"
Denn das Buch könne auch "Jeder Mann" heißen, wie sie sagt. "Wenn man als Mann nicht selbst auf irgendeine Art schon Grenzen verletzt hat, dann hat man weggeschaut, als es andere taten - und nichts dagegen getan."
Das zu erkennen und das nächste Mal etwas zu sagen, wenn der Kumpel sich Frauen gegenüber übergriffig verhält, sei schon ein erster, wichtiger Schritt. Denn Männer, die bereit seien, gegen andere Männer aufzustehen, gebe es immer noch viel zu wenig.