Im Schatten der Berge: Das Verschwinden der Christine Schwarz
Tanzen, tanzen, tanzen. Nichts wollte Christine Schwarz mehr. Tanz studieren, professionelle Tänzerin werden und vom Tanzen leben können. Dass sie schon über 30 war, schien ihr dabei ganz egal, und auch dass sie gegen jüngere Frauen, die seit ihrer Kindheit Ballett-Unterricht nahmen, keine Chance haben würde, ignorierte sie.
Christine tanzte durch ihre WG in Linz, sie tanzte im Garten ihrer Eltern in Niederösterreich und sie tanzte auch am Abend des 2. Juni 2017, am Abschlussabend eines Integrationsprojektes, das Einheimische und Flüchtlinge tänzerisch zusammenbringen sollte.
Dann verschwand Christine.
Am 7. Juni 2017, es war der Mittwoch nach Pfingsten, wurde Christines Mutter Barbara* nervös. Sie hatte ihre Tochter seit dem Wochenende nicht erreicht und keine Antworten auf ihre SMS-Nachrichten bekommen. Die Mitbewohnerinnen der 31-Jährigen erzählten Barbara, sie hätten sie nicht gesehen. Auch in jenem Hort in Steyr, in dem die studierte Soziologin arbeitete, oder besser: arbeiten hätte sollen, war sie nicht aufgetaucht.
Wo steckte Christine? Das letzte, das Barbara von ihrer Tochter wusste, war, dass sie vorgehabt hatte, sich über Pfingsten auf Einkehr in ein Kloster, bei den Marienschwestern in Linz, zu begeben. Doch auch die Schwestern erklärten, Christine sei nie bei ihnen angekommen.
Gemeinsam mit ihrem Mann informierte Barbara die Polizei. „Ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl“, sagt sie heute, wenn sie sich an diesen Tag vor fast genau drei Jahren zurück erinnert.
Andere Pläne
Christines Freunde aus dem Tanzprojekt, das am 2. Juni seinen Abschlussabend gefeiert hatte, wurden befragt. Von dem geplanten Aufenthalt im Kloster hatten sie noch nie etwas gehört. An jenem 2. Juni hatte die zierliche junge Frau mit dem brünetten Lockenkopf nämlich von ganz anderen Plänen für das Pfingstwochenende gesprochen:
„Sie war fröhlich und ausgelassen, ist dann aber recht früh gegangen“, sagt Projekt-Organisatorin Severina Lachmair. „Weil sie gesagt hat, sie möchte am nächsten Tag wandern gehen.“
Wandern? Davon hatten Christines Eltern gar nichts gewusst. Und auch die Polizei stand vor einem Rätsel. Zwar hatte man im WG-Zimmer einen ÖBB-Fahrplan vom Salzkammergut gefunden, wo genau die junge Frau hingefahren war, wusste aber niemand. Auch nicht, ob sie ihren Wanderausflug tatsächlich angetreten hatte, oder doch in Linz geblieben war. Wo also suchen? Die Tage vergingen und Christines Eltern wurden immer besorgter. Wo war ihre Tochter? Warum hatte sie nichts von der geplanten Wanderung erzählt? Warum der Vorwand, sie wolle auf Einkehr ins Kloster?
Ermittler Thomas Löfler vom Landeskriminalamt Oberösterreich fahndete mit Hochdruck nach der 31-Jährigen. Der erste konkrete Hinweis kam einige Tage später aus einer mehr als unerwarteten Richtung: von innerhalb der Polizei. „Es hat sich ein Kollege bei mir gemeldet und erzählt, seine Frau habe ihn auf ein Foto von Frau Schwarz in der Zeitung aufmerksam gemacht und gesagt, sie ist sich ganz sicher, Christine beim Wandern getroffen zu haben.“, erzählt Löfler. Als der Beamte sich daraufhin das Bild angeschaut habe, habe auch er bestätigen können, die junge Frau noch am Dienstag, den 6. Juni 2017, getroffen zu haben - auf einem Wanderweg bei der sogenannten Koppenbrüller-Höhle in der Region Dachstein-Krippenstein.
Die Höhle ist mit dem Zug gut erreichbar, die Ausstiegsstelle befindet sich zu Fuß nur etwa 15 Minuten vom Höhleneingang entfernt. Der Weg führt durch den Wald entlang der sogenannten Koppentraun, die im Frühjahr, wenn der Schnee auf den Bergen schmilzt, große Mengen Wasser führt und stellenweiße zum reißenden Fluss wird.
Ob Christine in der Höhle war oder nicht, konnte die Polizei nicht mit Sicherheit feststellen. Die Koppenbrüller Höhle ist eine wasserführende Tropfsteinhöhle, wie es in der Gegend mehrere gibt. Um sie zu besichtigen, wird festes Schuhwerk und wärmere Kleidung empfohlen. Jener Beamte, der Christine dort getroffen hatte, gab allerdings an, er habe sich gewundert, da sie nur Flip-Flops an den Füßen und ein leichtes Sommerkleid trug und dass sie für eine längere Wanderung in den Bergen also gar nicht ausgerüstet war.
Für die Ermittler ergaben sich aus dieser Aussage nun mehrere Fragen: War es, schlecht ausgerüstet wie Christine war, zu einem Wanderunfall gekommen? Hatte sie irgendwo den Halt verloren und war einen Hang hinunter gestürzt? Aber warum hätte man sie rund um ein so beliebtes Ausflugsziel wie die Koppenbrüller Höhle dann jahrelang nicht gefunden?
Außerdem war gänzlich unbekannt, was Christine vom Samstag, dem 3. Juni, bis zu diesem Dienstag, dem 6. Juni, gemacht hatte. War sie in Linz geblieben oder war sie, wie sie es ihren Freunden gesagt hatte, tatsächlich schon am Samstag zum Wandern aufgebrochen? Wo aber war sie dann abgestiegen? Kein Hüttenwirt oder Pensions-Inhaber hatte sich gemeldet und bekannt gegeben, dass er einen Gast vermisst. Auch die Mitbewohnerinnen aus der WG in Linz konnten nicht zur Klärung dieser Fragen beitragen, weil auch sie über das Pfingstwochenende nicht in der Wohnung waren.
Dennoch: Die Spur nach Obertraun war für die Personenfahnder ein erster Erfolg. Für Christines Familie hatte dieser hingegen einen bitteren Beigeschmack. Christine litt seit Jahren an einer bipolaren Störung, depressive und manische Phasen wechselten sich ab. Auch ihre Medikamente hatte sie in der Zeit vor ihrem Verschwinden abgesetzt, da sie glaubte, dann endlich ihr ganzes künstlerisches und tänzerisches Potenzial entfalten zu können.
Als die Polizei ihren Computer auswertete, stellten die Beamten fest, dass sich Christine eingehend mit dem Thema Suizid beschäftigt hatte. In ihrem Zimmer fand man, auf einen Zettle gekritzelt, die Notiz: „Es ist aussichtslos sagte die Zukunft“.
"Nur noch Suizid-Gedanken"
Die Vermutung lag also nahe, dass die junge Frau sich in den Bergen etwas angetan haben könnte. Felsen, Abhänge, die im Frühling stark anschwellende Koppentraun – ausreichend Möglichkeiten hätte es auf ihrem Ausflug gegeben. „Der Google-Verlauf hat mich persönlich extrem schockiert“, sagt auch Ermittler Thomas Löfler. „In der Zeit vor ihrem Verschwinden dürfte die Frau Schwarz nur noch Suizid-Gedanken gehabt haben.“
Aber auch im Falle eines Selbstmordes stand die immer gleiche Frage im Raum: Wo war Christines Leiche?
Aus der Wohnung in Linz wurden Wäschestücke geholt und ein Suchhund bei der Koppenbrüller Höhle auf Christines Geruchsspur angesetzt. Der Hund konnte den Weg, den Christine gegangen war, drei Stunden lang über Stock und Stein nachverfolgen. Dann endete die Spur, allerdings nicht etwa auf einem Berg, am Rande eines Abgrunds - sondern am Bahnhof in Bad Aussee.
Bis heute ist nicht geklärt, wo Christine Schwarz von dort aus hingefahren ist. Wollte sie eine weitere Wanderung an einem anderen Ort unternehmen? Ist dort ein Unfall passiert, hat sie sich anderswo etwas angetan?
Christines Freunde aus dem Tanzprojekt glauben nicht an einen Selbstmord. „Diesen Gedanken habe ich bis heute nicht, das kann ich mir fast nicht vorstellen“, sagt Severina Lachmair. „Sie war mit sich im Reinen. Es war nicht so, als ob sie vorhätte, die Entscheidung zu treffen, ihr Leben zu beenden.“
Auch, dass Christine noch am 29. Mai, vier Tage vor ihrem Verschwinden, eine Bewerbung für einen Job als Schaffnerin bei der Bahn aufgesetzt hatte, spricht dafür, dass sie eigentlich Pläne für die Zukunft hatte.
Zugfahrt ins Unbekannte
Was aber könnte passiert sein, wenn Christine nach dem Wandern bereits wieder im Zug saß?
Dass Christine Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, hält Ermittler Thomas Löfler für relativ unwahrscheinlich, wenngleich nicht für unmöglich. „Bei unseren Ermittlungen hat sich kein Hinweis darauf ergeben, dass ihr jemand etwas antun hätte wollen“, sagt Löfler. Allerdings: „Wenn die Frau Schwarz irgendwo jemanden getroffen hat oder in ein Auto eingestiegen ist, dann wissen wir das einfach nicht.“
Auch Severina Lachmaier hält eine andere Variante für wahrscheinlicher: „Meine Vorstellung war immer, dass sie verschwunden ist, weil sie Zeit für sich gebraucht hat und niemanden sehen will. Wenn die richtige Zeit kommt, kommt sie vielleicht wieder. Wenn sie kann.“
Könnte Christine tatsächlich freiwillig untergetaucht sein? Vielleicht in ein Kloster, wohin sie sich ursprünglich zurückziehen wollte? Ermittler Löfler schüttelt den Kopf. Es sei gar nicht so einfach, unterzutauchen, wie man sich das vorstelle, sagt er. Außerdem habe sich Christines Pass in ihrer Wohnung befunden und auch auf ihren Konten gab es keine Bewegung. Dennoch macht Löfler auf etwas aufmerksam: „Wenn die Frau Schwarz sich an einem Ort befindet und nicht gefunden werden will, dann dürfen wir ihren Eltern auch nicht sagen, wo sie ist. Wenn sie sich bei uns meldet, könnten wir aber sagen, dass es ihr gut geht.“
Für Christines Familie waren die vergangenen drei Jahre eine harte Zeit. Christines Sachen stehen immer noch im Haus ihrer Großmutter, in einem Zimmer, das Mutter Barbara nicht betreten kann - zu groß ist der Schmerz.
Die Suche nach ihrer Tochter hat sie dennoch nicht aufgegeben. Erst vor wenigen Tagen ist sie wieder ins Salzkammergut gefahren, um Steckbriefe anzubringen, auf denen sie um Hinweise auf den Verbleib von Christine bittet. „Die Hoffnung ist nicht umzubringen“, sagt Barbara.
Hier geht es zum Podcast rund um das Verschwinden von Christine Schwarz
Hinweise zum Fall Christine Schwarz bitte an das Landeskriminalamt Oberösterreich unter der Rufnummer 059 133 40/ 3333 oder an dunklespuren@kurier.at
Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person Suizid-Gedanken hat, sollten Sie sich jemandem anvertrauen. Das kann jemand aus Ihrem Umfeld sein oder auch die Telefon-Seelsorge. Sie ist in Österreich kostenlos unter der Rufnummer 142 zu erreichen. Hilfsangebote bietet auch das österreichische Suizidpräventionsportal
unter www.suizid-praevention.gv.at.
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