Chronik/Österreich

"Keine Angst vor der Tiefe"

17. August 2010, 19 Uhr. Höhlenforscher Dieter Sulzbacher, 34, war mit vier Kollegen in 120 Meter Tiefe im Tonionschacht bei Gusswerk, Steiermark. "Wir haben einen von uns neu entdeckten Teil der Höhle untersucht." Sulzbacher verlor den Halt an einer Wand und stürzte zehn Meter tief ab. Im Interview spricht der stellvertretende Obmann des Landesvereins für Höhlenkunde Wien / Niederösterreich über seinen Unfall – und darüber, warum Höhlenforscher wie er oder der jetzt verletzte Johann Westhauser die Tiefe nicht fürchten.

KURIER: Welche Erinnerung haben Sie an Ihren Unfall?
Dieter Sulzbacher:
Meine Kameraden erzählten mir, dass ich nach dem Absturz bewusstlos liegen geblieben bin. Einer stieg, so schnell er konnte, auf und alarmierte die Bergrettung. Bergrettungsarzt Giselher Sperka ließ sich 130 Meter tief abseilen – das war in dem Schacht möglich. Sechs Stunden nach dem Unfall flog mich ein Hubschrauber ins Krankenhaus Amstetten. Zum Glück hatte ich keine bleibenden Verletzungen – mit einer Ausnahme: Ich spürte meine linke Hand nicht mehr und konnte nichts mehr mit ihr halten. Heute habe ich eine neue Hand – eine Prothese, die ich unbewusst steuern kann.

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Hatten Sie jemals Angst vor der Tiefe?
Nein, sonst wäre ich kein Höhlenforscher. Wir haben keine Angst vor der Tiefe. Aber es ist auch eine Gewöhnungssache: Man fängt klein an, macht die ersten Befahrungen in horizontalen Höhlen und steigt nicht gleich mehrere Hundert Meter hinunter. Wir gehen auch nie alleine, sind zumindest zu dritt – dann kann bei einem Unfall einer Hilfe holen und einer beim verletzten Kameraden bleiben. Ich kenne aber Höhlenforscher, die Höhenangst haben. Die sind auch deshalb lieber in Höhlen statt auf Bergen, weil man in Höhlen die Höhe bzw. Tiefe nicht so wahrnimmt wie auf einem Berg.

Was war Ihre größte Tiefe?
Zirka 400 Meter in der noch weitgehend unerforschten Polmonster-Doline im Hochschwab-Massiv. Das war eine äußerst eindrucksvolle 18-Stunden-Expedition.

Welche Voraussetzungen sind dafür notwendig?
Die technischen Fähigkeiten, die Kondition und die notwendige mentale Stärke: Sie müssen sich bewusst sein, dass Sie so eine Expedition nicht plötzlich abbrechen können – und es Stunden dauern kann, bis Sie wieder am Tageslicht sind. Das ist ein psychologischer Faktor. Gerade in großen Tiefen ist es oft sehr nass, eng oder sonst irgendwie grauslich. Das kann belastend sein, wenn man längere derartige Passagen durchquert. Man darf nie in Panik geraten und muss immer die Übersicht bewahren. Und man muss ein guter Beobachter sein, um mögliche Gefahren, etwa Steinschlag oder Wassereintritt, frühzeitig zu erkennen. Ein guter Orientierungssinn ist auch von Vorteil. Und Geduld.

Warum Geduld?
Ein plötzlicher Wassereinbruch kann Ihnen für Stunden oder auch für einen ganzen Tag den Rückweg versperren. Solche Verzögerungen müssen Sie miteinkalkulieren – und damit umgehen können. Wobei man auch sagen muss: Expeditionen in Tiefen von 1000 und mehr Metern sind etwas, dem auch viele Höhlenforscher nicht gewachsen sind. Das ist nichts für jedermann.

Was macht den Reiz der Höhlenforschung aus?
Höhlenforschung ist heute die einzige Möglichkeit, Orte zu entdecken, wo noch niemand vorher war. Das Einmalige ist, auf einen Gang, einen Schacht oder überhaupt eine Höhle zu stoßen, die vorher niemand betreten hat. Das ist eine sehr große Motivation. Und natürlich die wissenschaftlichen Fragen, die sich daraus ergeben.

Wenn Sie zu einer 18-Stunden-Expedition aufbrechen, ist es vorher und nachher finster – und in der Höhle dann natürlich auch. Ist das nicht belastend?
Ich weiß, viele können das nicht verstehen und würden das als enorm belastend und anstrengend empfinden – auch psychisch. Aber uns Höhlenforschern macht das nichts aus – uns gefällt es einfach in Höhlen. Und Höhlenforschung ist grundsätzlich eine sehr sichere Sache: Auf den Bergen passiert viel mehr als in ihrem Inneren.

Die Bergung des verletzten Höhlenforschers Johann Westhauser (52) im Untersberg in Bayern geht rasch voran. Der Trupp erreichte Dienstagfrüh Biwak 2 in der Riesending-Schachthöhle. Nach wenigen Stunden Rast ging es schon weiter Richtung Biwak 1. Auf dem Weg dorthin gilt es einen geschwungenen Canyon zu bewältigen, sagt Andreas Langer von der Salzburger Höhlenrettung: „Durch den Canyon kommt man nur im Spreizgang, dazwischen geht es etwa zehn Meter in die Tiefe. Das erfordert viel Kraft und ist riskant. Es könnten weitere Sicherungseinbauten nötig werden.“ Aktuell sind drei Ärzte und acht Retter beim Patienten. Sein Zustand sei unverändert stabil, heißt es.

Von Biwak 1 aus bleibt nur noch ein etwa 180 Meter langer, senkrechten Schacht bis zum Einstieg. Hier soll der Verletzte in seiner Trage hochgezogen werden. Läuft weiter alles nach Plan, könnte die Rettung am Donnerstag abgeschlossen sein.