Chronik/Österreich

Geheimer Sex: Was geht in österreichischen Gefängnissen vor?

Die Geschichte klingt wild: Doppelmörderin Estibaliz , die „Eislady“, hat in ihrer Haftanstalt seit August 2017 eine geheime Beziehung mit einem Mithäftling geführt, inklusive intimen Treffen. Das erzählt sie so im neuen Buch „Zelle 14“ – siehe Geschichte "Eislady über ihre neue Liebe in Haft". Justizbeamte kamen erst nach Monaten dahinter, als sie im März auf dem Computer des Mithäftlings Briefe fanden. Er wurde verlegt, dennoch wollen die beiden bald heiraten.

Wie kann eine Liaison und sexueller Kontakt in einer Haftanstalt unbemerkt bleiben, wo doch Geschlechtertrennung sogar im Gesetz vorgeschrieben ist? Neben dieser Frage befeuert das Buch auch die Kritik am „Maßnahmenvollzug“, den Experten schon lange als reformbedürftig sehen. Sogar das Justizministerium selbst erarbeitete 2015 notwendige Änderungen, umgesetzt wurden sie nicht. Carranza nennt im Buch, das Verleger Bernhard Salomon nach über 100 Gesprächen mit ihr verfasste, den MaßnahmenvollzugPsychoknast“ und „härtestes Urteil nach der Todesstrafe“, dabei wird er immer öfter vom Gericht verordnet.

Markus Drechsler hat als Experte für Straf- und Maßnahmenvollzug die Aussagen von Carranza für Verleger Salomon geprüft. Sein Verein „Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug“ nennt den Vollzug „nicht menschenrechtskonform“, als Chefredakteur der Zeitschrift Blickpunkte für Menschen in Haft kann er die aktuellen Fragen beantworten.

KURIER: Herr Drechsler, der Maßnahmenvollzug soll so grausam sein. Carranza führte dort sogar eine Beziehung.

Markus Drechsler: Man darf das nicht vermischen. Die Kritik am Maßnahmenvollzug betrifft die Ungewissheit, wie lange man eingesperrt sein wird. Das ist psychische Folter. Man kann sich nicht vorstellen, wie das auf die Person wirkt.

Klären wir das bitte einmal: Was ist der Maßnahmenvollzug genau?

Wird jemand als „geistig abnormer Rechtsbrecher“ eingestuft – ein Begriff, den wir ablehnen – kommt er in den Maßnahmenvollzug. Dort wird er so lange verwahrt, bis ein Gutachter ihn für ungefährlich befindet und das Gericht das auch so sieht. Niemand weiß aber, wie lange das sein wird. Die Zahl der Untergebrachten steigt rasant, im Jahr 2000 waren es 400 Menschen, aktuell sind es 945 – auf unserer Website massnahmenvollzug.org führen wir immer die aktuellen Zahlen der Justiz an. 524 davon sind nach

§ 21 Abs. 1 des Strafgesetzbuches untergebracht, waren also zurechnungsunfähig. Die bekamen keine Strafe, gelten aber als gefährlich. Bei diesen Menschen gibt es meistens Vorerkrankungen, sie waren oft schon in der Psychiatrie. Diese Erkrankungen sind oft gut durch Medikamente behandelbar. 397 Menschen sind aktuell nach § 21 Abs. 2 verurteilt, waren also zurechnungsfähig. Ihre Haftstrafe läuft, aber auch sie kommen erst nach positivem Gutachten heraus. Das sind meist vorher nicht diagnostizierte Persönlichkeitsstörungen wie Narzissmus. Die behandelt man durch Psychotherapie. Aber: Die durchschnittliche Anhaltedauer liegt hier bei fünfeinhalb Jahren über der eigentlichen Strafe. Übrigens sind nur 90 Frauen im Maßnahmenvollzug.

Wieso werden männliche und weibliche Häftlinge überhaupt gemeinsam verwahrt?

Es gibt grundsätzlich zu wenig Haftplätze. Neben der Geschlechtertrennung will die Justiz auch das Abstandsgebot einhalten, also nicht Straf- und Maßnahmenvollzug mischen. Um all diese Regelungen einzuhalten, bräuchte es wie für Männer eine Anstalt für Frauen im Straf- und eine im Maßnahmenvollzug. Carranza war zuerst in der Frauen-Strafvollzugsanstalt Schwarzau – wider dem Abstandsgebot. 2017 wurden daher die Frauen im Maßnahmenvollzug aus Schwarzau in das Forensische Zentrum Asten verlegt, wo es aber nur Männer gab. Man richtete für die Unterbringung eine Frauenabteilung ein, aber sie begegnen sich, etwa bei Wartezeiten auf den Arzt, in Freizeit-Räumen, oder bei der Arbeit – Carranza und ihr Freund hatten den meisten Kontakt in der Tischlerei. Natürlich muss es Lücken in der Beobachtung gegeben haben, aber es ist nicht möglich, dass der Beamte in der Tischlerei jedem die ganze Zeit auf die Finger schaut. Außerdem wurde die Möglichkeit wohl unterschätzt, dass sich so schnell Annäherungen ergeben würden.

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In Deutschland sitzen etwa genauso viele Häftlinge in einer Art Maßnahmenvollzug wie in Österreich – bei zehnmal so vielen Einwohnern. Warum?

Bei uns wurde der Vollzug bis in die 1990er-Jahre anders gehandhabt, da wurde wirklich auf Therapie abgezielt, kamen Häftlinge sogar manchmal vor dem eigentlichen Haftende wieder heraus. Dann gab es den Fall eines Häftlings, der bei einem Freigang einen 13-Jährigen ermordete. Da schlug das Denken in Angst um: Lassen wir jemanden lieber länger drin, bevor etwas passiert. Wobei man das nie weiß.

Gutachter haben Angst, dass ein von ihnen positiv befundeter Häftling wieder etwas anstellt, das fällt auf sie zurück.

Daher ist eine Forderung, dass es nicht nur an einem Gutachter hängt, sondern an einer Gruppe, am besten aus Menschen, die täglich mit dem Betreffenden zu tun haben. Damit liegt die Verantwortung nicht nur bei einer Person. Generell sollten die Maßnahmenvorschläge, die das Justizministerium ja selbst vorgeschlagen hat, umgesetzt werden, vor allem die Begrenzung der Anhaltezeit und Therapie ab dem ersten Tag.

Sehen Sie als Experte den Vollzugsbereich generell als gut oder problematisch?

Es kommt stark auf die handelnden Akteure an. Es gibt Beamte, die Häftlinge bei Wasser und Brot einsperren wollen, und jene, die an Resozialisierung arbeiten – die ist ja das Ziel in unserem System, aber leider oft nur auf dem Papier. Die konkreten Maßnahmen wie Therapie und Sozialarbeit sind oft enden wollend. Ich würde sagen: Das System läuft, ist aber massiv verbesserungswürdig – das sieht man ja auch an Rückfallstatistiken jenseits der 60 Prozent.

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