Afghanen unter Generalverdacht
Von Julia Schrenk
Jene drei Burschen im Alter von 16 und 17 Jahren, die eine 21-Jährige am Wiener Praterstern vergewaltigt haben sollen, waren nicht die ersten afghanischen Flüchtlinge, die verdächtigt werden, ein Sexualdelikt begangen zu haben.
Da lassen sich leicht voreilige Schlüsse ziehen. Sind Afghanen besonders brutal? Sexuell durchtrieben? Wissen sie nicht, welche Werte in Europa hochgehalten werden? Laut Bundeskriminalamt waren 2015 tatsächlich afghanische Asylwerber jene, die am häufigsten (16-mal) wegen einer Vergewaltigung angezeigt wurden. Gefolgt von Irakern (fünf), Russen und Algeriern (je vier).
Betrachtet man die Statistik hinsichtlich der Nationalität, wurden 2015 am häufigsten (438-mal) Österreicher (von den absoluten Zahlen her freilich die überwiegende Mehrheit) wegen Vergewaltigung angezeigt, die Afghanen liegen nach Türken (44) und Serben (26) an vierter Stelle (22). Das heißt: 0,006 Prozent der Österreicher wurden einer Vergewaltigung verdächtigt, bei den in Österreich lebenden Afghanen waren es aber 0,01 Prozent.
Am häufigsten wurden Afghanen 2015 wegen Körperverletzungen (836), unerlaubtem Umgang mit Suchtgiften (631) und Diebstahl (369) angezeigt.
Kulturelle Unterschiede
Sind Afghanen also schwieriger zu integrieren als andere Asylwerber?"Nein", sagt Shokat Ali Walizadeh vom Verein Afghanische Jugendliche – Neuer Start in Österreich. "Aber die kulturellen Unterschiede sind sehr groß."
Walizadeh flüchtete 2008 aus Afghanistan, mittlerweile arbeitet er und engagiert sich mit Morteza Mohammadi für die Integration seiner Landsleute. Walizadeh und Mohammadi besuchen Asylquartiere und Schulen, erklären, wie man sich in Österreich benehmen soll, und veranstalten Fußballturniere.
Die Afghanen, sagen sie, hätten es in Österreich aktuell nicht leicht, viele würden aufgrund der jüngsten Vorfälle angefeindet.
Mohammadi und Walizadeh versuchen, die kulturellen Unterschiede zu erklären: Das Land befindet sich seit mehr als 30 Jahren im Krieg, viele Afghanen können weder lesen noch schreiben.
"Die Menschen wollen nach Europa, in die Freiheit", sagt Walizadeh. Doch diese Freiheit wird oft missverstanden. "Viele Afghanen haben keine Informationen darüber, was Freiheit und Demokratie in Europa bedeutet. Und dass Freiheit nicht bedeutet, dass man alles machen darf."
Für viele sei neu, dass eine Frau, die Burka trägt, in Österreich gleich viel Wert ist wie eine, die Minirock trägt. "Wenn eine Frau in besonders streng gläubigen Regionen Afghanistans die Burka nicht streng trägt, zeigt sie dem Mann, dass sie etwas von ihm will", sagt Walizadeh. "Wir erklären den Männern dann, dass eine Frau, die Minirock trägt, kein Angebot macht, dass sie verheiratet sein und Kinder haben kann."
Ein weiteres Problem sei, dass Schlepper den Flüchtlingen oft Falschinformationen geben. "Die sagen den jungen Afghanen, dass sie Drogen verkaufen sollen und dass sie, wenn sie unter 14 Jahre alt sind, nicht von der Polizei festgenommen werden können. Das ist ein weit verbreitetes Gerücht. Wir sagen dann: Wenn ihr euch hier ein Leben aufbauen wollt, dann dürft ihr das nicht machen."
An Gewalt gewöhnt
Laut Walizadeh und Mohammadi sind unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge in Österreich gut betreut (siehe unten), bei Erwachsenen sei das anders. "Sie sind oft traumatisiert, haben nichts zu tun, manche greifen zum Alkohol."
Sozialarbeiterin Kitti Kiss betreut eine Gruppe von 45 afghanischen Asylwerbern im Alter von zehn bis 18 in NÖ. Nur zwei ihrer Schützlinge haben die Schule besucht, viele hätten anfangs nicht gewusst, wie man mit Besteck isst. "Wir müssen sie quasi umschulen", sagt Kitti Kiss.
Einer der drei mutmaßlichen Vergewaltiger vom Praterstern war in einer Caritas-Einrichtung in Oberösterreich untergebracht. Der Vorfall wurde mit den anderen Jugendlichen in der Einrichtung aufgearbeitet. Eine Rechtfertigung für die Tat gibt es nicht.
Gerhard Reischl, Geschäftsführer der Caritas Oberösterreich, versucht, das Leben vieler junger Afghanen vor der Flucht zu beschreiben: "Sie wurden in eine völlig andere Welt hineingeboren." Eine Welt aus Angst, Krieg, Gewalt. "Manche sind gewohnt, sich mit Gewalt zu holen, was sie wollen."
Shokat Ali Walizadeh und Morteza Mohammadi appellieren an die Österreicher, nicht alle Afghanen unter Generalverdacht zu stellen: "Es wäre gut, die Namen der Gewalttäter zu nennen. Wenn ein Mensch schlecht ist, hat das nichts mit seiner Nationalität zu tun."