Familiennachzug: "Ich wusste nicht, ob ich meinen Sohn wiedersehe"
Von Lukas Kapeller
Es war einer der Knackpunkte der Großen Koalition in Deutschland: der Familiennachzug von subsidiär Schutzberechtigen, sprich meist Bürgerkriegsflüchtlingen. Dabei ging es wegen der lange umstrittenen Haltung Angela Merkels (CDU) um viel Symbolik, aber vermutlich relativ geringe Zahlen. Laut dem seriösen Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung würden nach Deutschland 50.000 bis 60.000 Ehepartner und Kinder von subsidiär Geschützten kommen. In Österreich ist dieser Nachzug möglich - mit drei Jahren Wartefrist.
Was diese Trennung bedeutet, können Osama und Mariam erzählen. Seit November sind der 55-jährige Bauingenieur und seine drei Jahre jüngere Frau in Wien. Ihr heute 17-jähriger Sohn Rami war schon 2015 geflüchtet. "Ich wusste nicht, ob ich meinen Sohn je wieder sehe", sagt Mariam, die in Damaskus Lehrerin war, und Tränen schießen ihr in die Augen.
Keine Botschaft mehr in Damaskus
Die Familie, die ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, lebte zweieinhalb Jahre verstreut. Im September 2015 flüchten die Söhne Rami und Sami aus Syrien. Sami lebt heute in Deutschland, der jüngere Rami in Wien. Die Eltern bleiben mit zwei Töchtern zurück. "Wir wollten, dass unsere Söhne in Sicherheit sind. Das war unser Gedanke. Dass es eine Möglichkeit gibt nachzukommen, wussten wir nicht", sagt Osama.
Am 11. November 2016 erhält Rami in Österreich Asyl. Dadurch haben seine Eltern die Chance, auch nach Wien zu kommen. Sie stellen einen Antrag an der Österreichischen Botschaft – diese ist wegen des Kriegs derzeit nicht in der syrischen Hauptstadt Damaskus, sondern in Beirut. Ein Weg mit Hindernissen: Über die Zahl der Polizei- und Militärkontrollen im syrischen Landesinneren schweigt Osama lieber.
Auch Schuldirektor Kamel Al-Hussein musste aus Syrien, in dem nach wie vor Baschar al-Assad herrscht, flüchten. In seinem Fall war es die al-Nusra-Front, damals noch mit al-Qaida verbandelt, die den Lehrer und Direktor verfolgten. Nach mehreren Massakern in seinem Heimatort in Nordsyrien und einer kurzen Gefangenschaft bei den al-Nusra-Kämpfern beschloss Al-Hussein im August 2015, über die Türkei nach Europa zu flüchten. Seine Frau und seine zwei kleinen Söhne musste er zunächst zurücklassen.
60 Fragen pro Familienangehörigen
In allen Familienverfahren entscheidet das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) in Wien, die Österreichische Botschaft leitet den Antrag nur weiter. Entscheidende Hilfe bekamen Osama und Mariam vom Roten Kreuz (ÖRK). Denn: Wer zu seinen asylberechtigten Angehörigen will, muss nachweisen, tatsächlich Familienmitglied zu sein. Osama deutet mit seinen Händen einen dicken Stapel an, so viele Dokumente hätten sie bringen müssen. 60 Fragen müssten auf Arabisch und Deutsch dem BFA beantwortet werden, bestätigt man beim Roten Kreuz.
Gemeinsam haben Österreich und Deutschland, dass Asylberechtigte ihre Kernfamilie nachholen dürfen: minderjährige Flüchtlinge ihre Eltern und minderjährigen Geschwister, Erwachsene ihre Ehepartner und Kinder. Unterschiede gibt es bei den subsidiär Schutzberechtigten: Da plant Deutschland nach seinem mehr als 2-jährigen Stopp nun einen Deckel, in Österreich ist der Nachzug möglich. Aber mit 3-jähriger Wartefrist.
Monate von Antrag bis Einreise
Erwachsene Flüchtlinge, die ihre Frauen und Kinder nachholen, seien der weit häufigere Fall, sagt Daniel Bernhart, beim ÖRK für Familienzusammenführung zuständig. Bei den wenigen Minderjährigen, deren Eltern folgen, wünscht sich das Rote Kreuz gesetzliche Änderungen. "Wenn Familienangehörige den Antrag stellen, einer minderjährigen Bezugsperson nachzuziehen, soll deren Alter am Datum des Antrags gelten – nicht das Alter bei der Entscheidung", sagt Bernhart. Die Verfahren des BFA dauern oft sechs bis zwölf Monate, viele Asylberechtigte würden in dieser Zeit volljährig werden.
Obwohl Österreich keine Kontingente beim Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte kennt wie Deutschland, sei man nicht unbedingt liberaler, sagt Rechtsanwalt Georg Bürstmayr: "Die Entwicklung in Österreich geht zu einem sehr strengen Vollzug. In meiner Beratung und Vertretung bekomme ich mit, dass die Familieneigenschaft oft bezweifelt wird, zugleich ist sie für Menschen aus bestimmten Ländern wie Afghanistan schwer nachweisbar." Aus dem Innenministerium heißt es hingegen: Wer die Anforderungen bei Verwandtschaft und Alter erfüllt, bekomme auch einen positiven Bescheid.
Wiedersehen getrübt
Laut BMI stellten 2016 noch 9.994 Familienangehörige einen Antrag auf Nachzug, 2017 nur mehr 4.405. Bei den tatsächlichen Einreisen von Familiennachzüglern blieb die Zahl 2017 mit 6.316 (2016: 6.030) fast gleich. Den Antrag von Rami und Mariam etwa lehnte das BFA wegen fehlender Unterlagen zunächst ab, erst mit nachgereichten Dokumenten kam ein Ja. Pech hatte die Familie auch noch beim Abholen ihrer Visa in Beirut – das Gerät in der österreichischen Botschaft, das die Visa druckt, sei bei ihrem Termin kaputt gewesen, so erzählt es Osama. Die Flugtickets, die er bei einer türkischen Airline gekauft hatte, verfielen. Rund 1000 Euro weg, für Osama sehr viel Geld. Zehn Tage später klappte es.
"Dieser Moment war mehr als schön", erzählt Mariam von der Ankunft am Flughafen Schwechat, als sie ihren Sohn Rami nach mehr als zwei Jahren umarmte. "Aber etwas hat das Wiedersehen getrübt. Unsere ältere Tochter Sara ist immer noch in Damaskus." Sara ist 20 Jahre alt, daher darf sie, auch als Familienangehörige, vorläufig nicht nach Österreich.
"Glücklichster Moment meines Lebens"
Rot-Kreuz-Berater Bernhart fände eine Gleichstellung von Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten beim Familiennachzug sinnvoll. Sprich: keine Wartefrist. "Diese Trennung ist psychisch extrem belastend. Wenn die Familie einmal da ist, klappt die Integration wesentlich besser", sagt Bernhart.
Auch Kamel Al-Hussein erlebte die Zeit ohne seine Frau und seine Söhne als qualvoll. Nach seiner Flucht im August 2015 bekam er im April 2016 Asyl. Seine Familie kam im Februar 2017 - 18 Monate Trennung. "Das Wiedersehen am Flughafen war der glücklichste Moment meines Lebens", sagt Al-Hussein. "Zugleich waren die 15 Minuten zwischen Landung und Wiedersehen die längsten. Immer wieder fragte ich die Auskunft, ob das Flugzeug wirklich gelandet sei."
Hilfsorganisation: Ermessen und Willkür
Vor dem Hintergrund der einzelnen Schicksale kritisieren Hilfsorganisationen in Deutschland den Kompromiss von Union-SPD. "Aus einem Rechtsanspruch will die Bundesregierung ein reines Ermessen machen. Die Zahl der 1000 Personen ist willkürlich und die Auswahl der Menschen auch völlig unklar", sagt Bellinda Bartolucci, Juristin bei Pro Asyl. Subsidiär Schutzberechtigte seien Menschen, die ebenfalls vor schweren Menschenrechtsverletzungen und oft aus Lebensgefahr flüchteten. Bartolucci: "Sie befinden sich in einer vergleichbaren Situation wie Asylberechtigte, aber ihre Rechte werden jetzt deutlich eingeschränkt."