Chronik/Oberösterreich

"Flüchtlingsdrama im Mittelmeer ist Zeitbombe"

Das Problem ist riesig, es ist eine Zeitbombe." Für Josef Weidenholzer, sozialdemokratisches Mitglied des Europaparlaments und Präsident der Volkshilfe Österreich, ist das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer das wichtigste Problem, um das sich der neue Kommissionspräsident Jean Claude Juncker kümmern müsse. Weidenholzer ist als Mitglied der parlamentarischen Innenausschuss ebenfalls damit konfrontiert. Fragen des Asyl- und Grenzschutzes beschäftigten den Linzer Universitätsprofessor. Als Hauptursache für den Flüchtlingsstrom, der sich von Afrika über das Mittelmeer nach Europa ergießt, sieht er die devastierte Wirtschaftslage in vielen afrikanischen Ländern. "Sie schafft Druck, dass die Leute weg wollen. Der Großteil sind Armutsflüchtlinge." Es gebe viele ungelöste Konfliktherde wie Somalia, Eritrea, den Südsudan, Boko Haram in Nigeria , Libyen etc. Weil Europa seine Grenzen abgedichtet habe, treibe man die Menschen in die Hände von Schleppern, die Verbrecher seien, und zwinge sie zur Flucht übers Meer. Weidenholzer hat sich die Lage in Gibraraltar persönlich angeschaut. "Das ist alles ein Wahnsinn. Bis zu einem Viertel kommen bei der Fahrt über das Meer um."

Weidenholzer fordert ein Maßnahmenpaket. Er verlangt eine neue Handelspolitik, einen New Deal für Afrika. "Wie schaffen wir Lebensbedingungen, damit die Menschen bleiben?" Die Politik müsse Hilfe zur Selbsthilfe leisten.

Der zweite Punkt sei, die Menschen aus den Fängen der Schlepper herauszukriegen. "Die Menschen sollten ihre Auswanderungsansuchen bei den Botschaften in Afrika abgeben können. Zusätzlich sollte die EU Büros einrichten, an die sich die Auswanderungswilligen wenden können."

Das Dublin-Abkommen, wonach jenes Land, in dem Flüchtlinge ankommen, sie aufnehmen müsse, funktioniere nicht mehr. "Wir brauchen Flüchtlingsquoten, die die Flüchtlinge auf die Mitgliedsländer je nach wirtschaftlicher Stärke und Bevölkerungsanzahl aufteilen.

"Es bedarf auch eines Notprogramms, um Ländern, die bereits viele Flüchtlinge aufgenommen haben, zu helfen." 40 Prozent der Bevölkerung im Libanon seien bereits Syrien-Flüchtlinge. Und: "Wir brauchen eine Friedensordnung für den Mittleren Osten. Es gibt dort entsetzliche Tragödien, Völker wie die Christen und Jesiden werden vernichtet."

400 Mio. wollen weg

Zu ähnlichen Schlüssen wie Weidenholzer kommt Paul Collier, Entwicklungsökonom an der Universität Oxford. Laut Umfragen würden etwa 40 Prozent der Bewohner der armen Länder Afrikas gerne auswandern. Das wären rund 400 Millionen Menschen. Es sei klar, dass das nicht gehe, denn es würde sowohl die reichen als auch die armen Ländern überfordern. Massenemigration ist für ihn keine Lösung.

Gebildete emigrieren

Die Zurückgebliebenen würden noch tiefer sinken, wenn die besser Gebildeten das Land verlassen. "Die über das Mittelmeer nach Europa fahren, sind nicht die Ärmsten, sie kommen meist aus der Mittelschicht, es sind die Jungen, Risikobereiten." Sie würden Tausende Dollars an Schlepperbanden zahlen. Er fordert, die legalen Wege der Zuwanderung neu zu regeln, etwa durch Bewerbungsverfahren für Qualifizierte. Gleichzeitig müsse Europa die Einwanderungswelle stoppen bzw. begrenzen.