Chronik/Burgenland

Diagnose Fetales Alkoholsyndrom: „Wie ein Gewitter im Kopf“

Michael ist gerade aufgestanden. Es ist 10 Uhr. Der 18-Jährige setzt sich zu seiner Pflegegroßmutter an den Tisch, trinkt einen Energy Drink und hört zu. Ingrid (Namen geändert Anm.) erzählt, wie sie Michaels Pflegegroßmutter wurde und von ihrer Odyssee bis zur richtigen Diagnose des Burschen.

Er hat FAS, Fetales Alkohol Syndrom. „Das ist wie ein Gewitter im Kopf und man weiß nicht, wann der Blitz einschlägt“, schildert Ingrid. FAS ist die schwerste Ausprägung der „Fetal Alcohol Spectrum Disorder“ kurz FASD. Sie tritt auf, wenn Mütter in der Schwangerschaft Alkohol trinken. Es kommt zu Fehlbildungen im Gehirn, die unterschiedlich ausgeprägt sein können. Dazu reicht auch schon wenig Alkohol zum falschen Zeitpunkt und die Gehirn-Entwicklung des Fötus ist gestört.

Alle Inhalte anzeigen

Falsche Diagnosen

Leicht hatte es der Jugendliche nie. Seine Mutter war 16, als sie schwanger wurde. Auf Alkohol und Partys verzichtet hat sie damals nicht. Dann kam er als Eineinhalbjähriger zu Pflegeeltern, die ihn wieder abschoben. „Mit vier Jahren ist er zur Lebensgefährtin meines Sohnes gekommen, es war der fünfte Pflegeplatz für das Kind“, sagt Ingrid. Er sei teilweise sehr aggressiv gewesen und habe andere Kinder geschlagen.

Als Jugendlicher war er in mehreren Pflegeeinrichtungen. Denn seine Pflegeeltern bekamen ein eigenes Kind. „Ich habe heute noch das Bild vor mir: Michaels Bruder saß weinend und alleine vor seiner Geburtstagstorte, weil wir alle Michael beruhigen mussten, da die Lage eskalierte“, schildert Ingrid. „Das tut mir heute noch leid“, sagt Michael. In den Einrichtungen sei nie auf ihn eingegangen worden. Drogen, Gewalt und Anzeigen gehörten zum Alltag. Diagnosen wie ADHS und Posttraumatische Störungen wurden gestellt, aber die Behandlungen griffen nicht. „Erst jetzt haben wir die Gewissheit, was es ist“, sagt Ingrid. Durch die FASD-Hilfe Wien erhielt Michael jene Diagnose, die nur von wenigen Psychiatern in Österreich gestellt werden kann. „Die Auswirkungen bei den Betroffenen können unterschiedlich sein. Michael wechselt zwischen 3-jährigem Trotzkopf und 16-jährigem pubertierenden Flegel“, sagt Ingrid. Michael lacht dabei. So harmonisch laufen die Tage nicht immer ab. „Seine Reaktionen sind unberechenbar“, sagt Ingrid, die oft an ihre Grenzen stößt.

Alle Inhalte anzeigen

Nicht heilbar

Seit mehr als einem Jahr lebt er bei ihr. Adäquate Pflegeeinrichtungen für Menschen mit FAS gebe es in Österreich keine. „Es ist nicht heilbar und die Behörden haben es nicht auf dem Schirm, wir werden mit diesen Menschen alleine gelassen“, fordert Ingrid mehr Betreuungsmöglichkeiten für die Betroffenen.

Unterstützung bekommt sie von Mitarbeitern der Traumatologischen Gemeinschaft Burgenland. Mit den Betreuern kommt Michael gut aus, am liebsten ist er in der Natur und läuft durch den Wald. „So kommt er runter und kann sich auspowern“, sagt Ingrid.

"Kleine Mengen Alkohol reichen"

Alle Inhalte anzeigen

Anlaufstelle. In Deutschland gehen Experten davon aus, dass etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung an FASD leiden. Für Österreich gibt es keine Zahlen. „Wir gehen von einer ähnlichen Anzahl aus“, sagt Brigitte Stuiber, Gründungsmitglied des FASD-Netzwerks in Neusiedl am See. Neben der FASD-Hilfe Austria in Wien  ist der Verein im Nordburgenland die zweite Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige. Die FASD-Hilfe Austria bietet Beratungsgespräche und Diagnostik  an. Das FASD Netzwerk sei mehr eine Selbsthilfegruppe, meint Stuiber
„Wichtig ist, dass FASD in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Man darf nicht betrunken Auto fahren und wenn man Alkohol trinkt soll man nicht schwanger werden“, sagt sie. Denn schon eine kleine Menge kann ausreichen, um das Ungeborene nachhaltig zu schädigen.  „Die Ursache ist nicht immer häufiger Alkoholkonsum“, weiß Stuiber, die selbst eine betroffene Adoptivtochter großgezogen hat.  Es könne schon sehr früh zu schweren Schädigungen kommen. Oft wüssten die trinkenden Frauen gar nicht, dass sie schon schwanger sind. Aber die Auswirkungen können gravierend sein. 

Das Gehirn eines FASD-Kranken arbeite nicht wie ein normales, „sie verstehen vieles nicht, was für andere klar ist“, sagt Stuiber und will Bewusstsein schaffen. „Denn es gibt auch viele Ärzte, die das Behinderungsbild FASD nicht kennen“, weiß Stuiber

Das Spektrum der Erkrankung ist groß,  die Beeinträchtigungen können stark variieren. „Wir sind mit unserer  Selbsthilfegruppe im Burgenland und in Wien   tätig. Wir wollen Anlaufstelle   sein  und ein Netzwerk bilden. Deshalb versuchen wir, mit Kliniken und  mit Therapeuten  in Kontakt zu kommen“, erklärt Stuiber

www.fasd-netzwerk.at