100 Jahre Burgenland: Das Land der Wanderarbeiter
Von Thomas Orovits
Der Tisch ist reich gedeckt. Der Pausenfilm im Rahmen des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker gab gar einem internationalen Publikum einen Vorgeschmack auf den 100. Geburtstag des Burgenlandes als Teil der Republik. Mit einer Reihe von Ausstellungen, Projekten und Veranstaltungen soll zurück- und vorausgeschaut werden. Höhepunkt des Festjahres ist eine Jubiläumsausstellung auf Burg Schlaining ab 12. Juni – wenn Corona es zulässt. Der KURIER fragte den Historiker Gerald Schlag nach Wegmarken seit 1921 und seine Geburtstagswünsche fürs Land.
KURIER: Sie sind in Hornstein aufgewachsen, feiern heuer den 80. Geburtstag: Was sind Ihre frühesten Erinnerungen?
Gerald Schlag: Im letzten Kriegsjahr, also im Jänner oder Februar 1945 reisten meine Mutter, Großmutter und ich auf Anraten meines Vaters zur Großtante nach Gmünd im Waldviertel. Mein Vater erkannte, dass nach dem Zusammenbruch der Front in Ungarn der letzte Widerstand der Deutschen Wehrmacht – wenn überhaupt möglich – an der damals hektisch gebauten „Reichsschutzstellung“ an der burgenländischen Ostgrenze erfolgen würde. Selbst wenn die dortigen Kämpfe nur wenige Tage dauern würden, werde das Land in Schutt und Asche versinken. Die Flucht aus dem unweigerlich zu erwartenden Chaos rechtzeitig anzutreten sei ein Gebot der Stunde. Wahrscheinlich wäre das Waldviertel ein sicherer Zufluchtsort, da – so war mein Vater überzeugt – der Krieg mit der Einnahme von Wien enden würde. Im vermeintlich sicheren Gmünd erlebte ich verheerende Bombenangriffe und erinnere mich noch heute deutlich an die Zerstörungen und Toten, die ich sah. Aber als relativ kleines Kind konnte ich das schreckliche Geschehen nicht voll begreifen.
Das Ende des Krieges beschloss die ersten 25 Jahre des früheren Deutsch-Westungarn bei Österreich – Katastrophenjahre?
Das Burgenland kam 1921 zu einem Staat, der Rest eines Wirtschaftsraums mit 50 Millionen Menschen war. Durch die gewaltige Inflation nach dem 1. Weltkrieg gingen Vermögenswerte verloren. Land und Leute hatten sich kaum erfangen, als die Weltwirtschaftskrise hereinbrach.
1927 fallen die Schüsse in Schattendorf (rechte Frontkämpfer erschossen einen linken Schutzbündler und einen Buben, der Freispruch der Schützen führte zum Brand des Justizpalastes – Vorboten von Austrofaschismus und Bürgerkrieg).
Dieses Ereignis hat allen erst so richtig bewusst gemacht, wie gespalten die Republik war.
Sie haben geschrieben, die Nationalsozialisten hatten in den Jahren vor dem „Anschluss“ in vielen Dörfern auch in sozialdemokratischen Kreisen breiten Zustrom. Warum?
Viele Sozialdemokraten, die das gewaltsame Ende der demokratisch-parlamentarischen Republik Österreich und letztlich ihre Niederlage im Bürgerkrieg des Februar 1934 erleben mussten, standen in Gegnerschaft zum autoritären Ständestaat von Dollfuß und Schuschnigg. Also haben sie sich jenen angeschlossen, die weitergekämpft haben, das waren die Nazis. Die große Zahl der durch die Weltwirtschaftskrise arbeits- und einkommenslos Gewordenen sah mit Faszination auf die Entwicklung in Hitler-Deutschland nach 1933, wo es in wenigen Jahren einen großen wirtschaftlichen Aufschwung gab und kaum mehr Arbeitslose. Hinter dien Kulissen dieses Geschehens konnte man ja damals noch nicht blicken.
Waren Burgenländer anfälliger für die NS-Ideologie, schon am Vorabend des „Anschlusses“ konnten die Nazis innerhalb weniger Stunden die Macht an sich reißen?
Nein. Wie problematisch dieser verheißene wirtschaftliche Aufschwung war und dass er in einen Krieg mündet, haben die Leute ja nicht gewusst. Ich bin fest überzeugt, dass der Großteil jener Menschen, die 1938 dem Hitlerregime positiv gegenüberstanden, gegen Ende des Krieges ehrlich dagegen waren. Als Historiker darf man nie hintennach besserwisserisch sein, sondern muss immer im Auge behalten, was die Menschen der damaligen Zeit wissen und erleben konnten.
In den 1930-er Jahren lebten 3.400 Juden im Burgenland, ein Drittel wurde in der NS-Zeit ermordet, der Rest wanderte aus, kaum jemand kehrte zurück – hat sich das offizielle Burgenland zu wenig für die Rückkehr eingesetzt?
Nach 1945 versuchte die Republik Österreich das den jüdischen Mitbürgern angetane Unrecht wieder gutzumachen. Man restituierte die „arisierten“ Häuser und Grundstücke an die Überlebenden und Erben der Ermordeten, und suchte andere Vermögensverluste durch finanzielle Entschädigungen etwas auszugleichen. Doch kann man die Ermordung tausender Menschen, das unendliche Leid, das viele Überlebende erlitten, wieder gut machen? Von den überlebenden Juden kamen nur wenige in ihre alten Heimatorte zurück. Viele hatten sich in der Fremde eine neue Heimat aufgebaut und auch jene, die nach Österreich zurückkehrten, zogen es vor, in der Anonymität der Großstädte weiterzuleben, zu schwer war die Erinnerung an die Demütigungen und Misshandlungen, die sie vielfach in den Dörfern erlebt hatten. Sie wollten und konnten den Tätern der schrecklichen Tage nicht begegnen, oder jenen, denen ihr Schicksal gleichgültig gewesen war.
In der NS-Zeit existierte das Burgenland nicht, der Norden war dem Gau Niederdonau, der Süden dem Gau Steiermark zugeschlagen. Stand die Existenz des Landes 1945 auf der Kippe?
Heute wissen wir, dass die Sowjetunion darauf bestand, dass das Burgenland wieder errichtet wird und in die sowjetische Zone kommt. Im Südburgenland gab es Stimmen, man wolle lieber bei der Steiermark bleiben, weil dort die Briten stationiert waren.
Wirtschaftlich war auch das erste Nachkriegsjahrzehnt mau...
Das Land hatte große Probleme, vom Marshallplan oder anderen Fördermaßnahmen hat es kaum oder überhaupt nicht profitiert. Auch Private hielten sich mit Investitionen zurück, weil sie fürchteten, Ostösterreich könnte wie der Osten Deutschlands dem Ostblock zugeschlagen und Privatvermögen verstaatlicht werden.
Erst 1955 ging es bergauf?
Auch nach dem Krieg sind viele Burgenländer ausgewandert, vor allem höher Gebildete, da es im Land kaum entsprechende Arbeitsmöglichkeiten gab. Nicht nur nach Übersee, sondern auch in die westlichen Bundesländer und nach Westeuropa. Das hat sich mit dem Staatsvertrag schlagartig geändert. Es ist fast ein Wunder, in welcher Geschwindigkeit sich das Burgenland sozial und wirtschaftlich entwickelt hat, heute gehören wir in Europa zu den wohlhabendsten Regionen. Diese Erfolgsgeschichte war natürlich begünstigt durch weltpolitische Ereignisse wie den Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und den EU-Beitritt 1995.
Das wirtschaftliche Glück außerhalb des Landes zu suchen ist eine Konstante?
Die Burgenländer waren immer gewohnt, Wanderarbeiter zu sein. Die Form hat sich im Lauf der Jahrzehnte natürlich stark verändert. Aber mit einem Bein in der alten Heimat verwurzelt zu sein und mit dem anderen dort, wo man seinen Lebensstandard erwirtschaftet, hat sich bis heute erhalten.
Heute ist das Burgenland begehrter Arbeitsplatz, vor allem für Ungarn aus den angrenzenden Komitaten. Vor zehn Jahren haben Sie gemeint, diese Region werde in zehn oder 20 Jahren wieder zusammengewachsen sein – waren Sie zu optimistisch?
Vielleicht. Viele im Burgenland sind davon ausgegangen, dass wir jahrhundertelang verbunden waren und ähnlich denken. Ich habe bei meinen Freunden in Ungarn den Standpunkt vertreten, wenn die Ungarn zehn Jahre fleißig arbeiten und das System umstellen, können sie das österreichische Wohlstandsniveau erreichen. Viele Ungarn waren aber der Ansicht, dass ihnen 30 Jahre gestohlen wurden und sie nicht zehn weitere Jahre warten, sondern jetzt leben und konsumieren wollen – und ich verstehe das. Sie haben lieber eingekauft und sind gereist, statt in Landwirtschaft und Industrie zu investieren.
Ich muss den Zeithistoriker noch zu einem Thema befragen, das seit einem halben Jahr virulent ist: Wirft der Commerzialbank-Skandal einen Schatten auf die „Erfolgsgeschichte“ des Landes?
Natürlich sind wir momentan erschüttert und empört, aber solche Skandale und Zusammenbrüche von Banken gab es immer wieder. Im Vergleich zu anderen Krisen der letzten 100 Jahre ist diese Krise im Finanzbereich eine Marginalie.
Haben Sie einen Geburtstagswunsch für das Burgenland?
Dass wir den Optimismus nicht verlieren und uns daran erinnern, welche Energie frühere Generationen aufgebracht haben. Und ein Wunsch an Journalisten: Sie sollen Skandale aufdecken, aber darüber nicht vergessen, dass es auch viel Positives gibt. Positive Meldungen sind für die Menschen psychisch von großer Wichtigkeit.