Grippewelle hat Österreich voll erfasst
Jetzt hat die Grippewelle Österreich voll erfasst. In der Vorwoche war die Zahl der Neuerkrankungen in Wien erstmals fünfstellig: 11.100 neue Patienten mit Grippe und grippalen Infekten ergab die Hochrechnung des Gesundheitsamtes der Stadt Wien auf Basis der Meldungen ausgewählter niedergelassener Ärzte. Aber auch in anderen Bundesländern steigt die Zahl der gemeldeten Fälle. Die Grippewelle ist jetzt offiziell „ausgerufen“ – damit übernehmen die Kassen die Kosten für Anti-Grippe-Medikamente wie Tamiflu und Relenza.
„Es ist eine sehr starke Grippewelle, und wir sehen auch viele schwere Krankheitsverläufe – vor allem bei über 65-Jährigen“, sagt die Virologin Univ.-Prof. Theresia Popow-Kraupp von der klinischen Abteilung für Klinische Virologie im Wiener AKH. Auch kleine Kinder seien stark betroffen. 44 Prozent der im AKH stationär aufgenommenen Patienten mussten auf einer Intensivstation betreut werden.
Starke Reaktionen
„Viele Patienten reagieren sehr rasch sehr heftig mit hohem Fieber bis zu 40 Grad Celsius – das ist stärker als in den vergangenen Jahren“, sagt die Medizinerin Susanne Drapalik vom Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV). „Die Zahl der Spitalsaufnahmen ist stark angestiegen.“ Kurzfristig könne es deshalb dazu kommen, dass Stationen überbelegt seien: „Aber wir versuchen das so schnell wie möglich auszugleichen.“
Einen Ansturm gibt es auch auf die Spitalsambulanzen: „Wir haben dort teilweise bereits sehr lange Wartezeiten – aber ein Hausarzt kann die Grippe genauso gut behandeln.“
Ärztefunkdienst am Limit
Beim Wiener Ärztefunkdienst registrierte man überdies „sehr viele junge Patienten“ – und sehr viele mit einer begleitenden Nebenhöhlenentzündung. „Wir sind mit den Kapazitäten am Limit“, so der ärztliche Leiter Paul Prem am Dienstag. Die Zahl der Einsätze pro Nacht habe sich beinahe verdoppelt (von 110 auf rund 200), die Wartezeiten seien mit bis zu fünf Stunden relativ lang: „Wir haben die Zahl der Ärzte, die in der Nacht und am Wochenende unterwegs sind, von 15 auf 18 aufgestockt. Und auch am Telefon haben wir jetzt statt vier bereits sechs Ärzte. Aber mehr schaffen wir mit unseren derzeitigen Kapazitäten nicht.“
Überdies melden sich immer weniger Mediziner für den Ärztefunkdienst: „Ein Arzt, der mit einem Fahrer unterwegs ist, bekommt 38 Euro brutto pro Stunde. Nach allen Abzügen bleiben dann rund 16 Euro übrig. Da sagen uns viele Ärzte: Um dieses Geld bekomme ich für die Nacht nicht einmal einen Babysitter. Hier wird eine Tariferhöhung kommen müssen, sonst bricht das System zusammen.“
"Der deutliche Anstieg von Neuerkrankungen signalisiert den Beginn der Grippewelle", hieß es schon am Freitag in einer Mitteilung des Diagnostischen Influenza-Netzwerkes Österreich. Wenig Hoffnung geben auch die Erfahrungswerte: Nach den Semesterferien steigt die Zahl der Neuerkrankungen üblicherweise weiter deutlich an.
Ein deutliches Indiz sind die jüngsten Zahlen aus Niederösterreich, wo in der vergangenen Woche 6.300 Menschen mit der Diagnose "Grippe" oder "grippaler Infekt" in Krankenstand gingen - das entspricht einem Viertel aller Krankenstände. In der ersten Jännerhälfte, die laut einigen Experten aber Grippe-schwach war, lag dieser Wert nur bei rund 17 Prozent.
Kinder besonders betroffen
Es ist ein "Viren-Mix", der die vielen Österreicher derzeit ins Bett zwingt – und Kinder sind vielfach besonders betroffen: "Wir haben heuer – im Vergleich zu den vergangenen Jahren – auffällig viele Infektionen von Kleinkindern mit den sogenannten RS-Virus (Respiratory-Syncytial-Virus)", sagt Kinderarzt Thomas Müller von der Kinderklinik der MedUni Innsbruck. Es ist bei Säuglingen und Kleinkindern der häufigste Auslöser von akuten Atemwegsinfekten. Und auch der Wiener Kinderarzt Peter Voitl sagt: "Derzeit gibt es eine Häufung von Fällen."
Ärzte und Spitäler aus dem Raum Wien senden Nasen- oder Rachenabstriche von Patienten mit Atemwegsinfekten an das Department für Virologie der MedUni Wien. "Bei mehr als der Hälfte der Einsendungen weisen wir Influenza-Viren nach", sagt Departmentleiter Univ.-Prof. Franz X. Heinz. Beim größten Teil davon handelt es sich um einen speziellen Stamm von H3N2-Viren, gegen den die heurige Grippeimpfung nicht – oder nur sehr schlecht – wirkt.
Der Grund: Nach Beginn der Impfstoffproduktion im Frühsommer kam es zu einer unerwarteten Mutation dieses Grippevirus – als sie entdeckt wurde, war es für den diesjährigen Impfstoff aber schon zu spät.
Entgegen ersten Befürchtungen sind mit dem mutierten Virus bis jetzt keine schwereren Krankheitsverläufe als üblich beobachtet worden: "Ich habe schon sehr viele Fälle gesehen – aber noch keine ganz schwer Kranken", sagt Voitl.
Anti-Grippe-Mittel
Da die Grippe-Impfung heuer nur schlecht wirkt, werden spezielle Anti-Grippe-Mittel (Tamiflu, Relenza) in dieser Saison wichtiger, sind viele Experten überzeugt. Hier gab es in den vergangenen Jahren heftige Kontroversen über den tatsächlichen Nutzen. Laut einer neuen Studie der Universität von Michigan kann Tamiflu die Dauer der Symptome um einen Tag verkürzen. Die Häufigkeit von zusätzlichen bakteriellen Infektionen – etwa Lungenentzündungen – konnte um 44 Prozent verringert werden. Wichtig ist aber, dass die Medikamente so rasch wie möglich nach Auftreten der ersten Symptome eingenommen werden.
Ganz wichtig ist es, auf die Atmung des Kindes zu schauen, betonen Kinderärzte. "Bei einer Infektion mit einem RS-Virus – die Symptome sind ähnlich wie bei einer Grippe – kann es zu einer deutlich schnelleren und schwereren Atmung wie sonst bei einem fieberhaften Infekt kommen, besonders im ersten halben Lebensjahr.
Die Atmung beschleunigt sich, weil der Gasaustausch in der Lunge – Aufnahme von Sauerstoff, Abgabe von Kohlendioxid – nicht mehr funktioniert. "Das rasche Atmen soll das ausgleichen, aber es ist für die Kinder extrem anstrengend, sie erschöpfen rasch", betont Kinderarzt Müller. Der Brustkorb zieht sich ein, es kann zu Atem- und Herzkreislaufstillstand kommen. Bei rascher und schwerer Atmung sollten Eltern unbedingt ein Spital aufsuchen: Dort wird die Sauerstoffsättigung des Blutes gemessen und – falls sie zu gering ist – Sauerstoff verabreicht.
Risikokindern mit chronischen Krankheiten könne in der kalten Jahreszeit vorbeugend einmal monatlich eine Spritze mit Antikörper gegen das RS-Virus verabreicht werden , sagt Kinderarzt Voitl – länger als ein Monat hält die Wirkung aber nicht an. Die Epidemien mit RS-Viren verlaufen immer wellenförmig und sind oft auch lokal auf bestimmte Regionen begrenzt. Neben Frühgeborenen und Kleinkindern mit einer Grunderkrankung gelten auch Personen mit geschwächtem oder unterdrücktem Immunsystem – zum Beispiel nach einer Transplantation – als Risikopatienten und entwickeln oft schwere Verläufe. Eine Infektion schützt übrigens nicht auf Dauer vor einer Folge-Erkrankung.