Wenn das Blut zu dünn wird
Von Ernst Mauritz
Bei der Pharmafirma Boehringer Ingelheim laufen die Telefone heiß: "Es gibt viele Anrufe besorgter Patienten", sagt Andreas Barmer, Sprecher der Unternehmensleitung. Im Zusammenhang mit der Einnahme des neuen gerinnungshemmenden Medikaments Dabigatran (Handelsname: Pradaxa) sind weltweit 260 Todesfälle gemeldet worden. In Österreich gibt es zwei Meldungen an das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) zu Todesfällen in zeitlichem Zusammenhang mit der Einnahme - der KURIER berichtete. In einem Fall könne ein Zusammenhang ausgeschlossen werden, im anderen gibt es zu wenig Informationen, so Behördenleiter Univ.-Prof. Marcus Müllner.
Wer bekommt derzeit Pradaxa in Österreich?
In Österreich erhalten vor allem Patienten nach einer Gelenksersatz-Operation (Knie, Hüfte) Pradaxa zur Vermeidung von Thrombosen (Blutgerinnseln) - als Alternative zu den Heparin-Spritzen. Bei Boehringer schätzt man die Zahl ganz grob auf 3000. Allerdings ist bei dieser Anwendung die Einnahmedauer begrenzt (Kniegelenk: 6-10 Tage; Hüftgelenk: 28-35 Tage) und die Dosierung geringer als bei der Dauertherapie zur Verhinderung von Schlaganfällen bei Vorhofflimmern. In dieser Anwendung wird es derzeit in Österreich "nur in ausgesuchten Ausnahmefällen von den Kassen bewilligt", sagt Univ.- Doz. Helmuth Rauscher von Boehringer. Etwa, wenn die Patienten nicht gut auf herkömmliche Medikamente wie Marcumar eingestellt werden können.
Worin besteht der Vorteil gegenüber Marcumar?
Laut der Zulassungsstudie ist die Zahl schwerer, lebensgefährlicher (Hirn-)Blutungen geringer als bei einem Medikament aus der Substanzklasse, zu der auch Marcumar zählt, der Schutz vor Schlaganfällen aber besser. Bei Marcumar muss ein Mal im Monat mit einem Gerinnungstest kontrolliert werden, ob die Patienten gut eingestellt sind. Ist das Blut zu dünnflüssig, steigt das Risiko gefährlicher Blutungen. Bei den neuen Präparaten garantiert die kontinuierliche Einnahme einen konstanten Blutspiegel - die regelmäßigen Kontrollen fallen weg.
Welche Nachteile gibt es?
"Bei einer eingeschränkten Nierenfunktion besteht die Gefahr, dass der Wirkstoff zu langsam ausgeschieden wird und sich im Körper anreichert - das erhöht das Blutungsrisiko", erklärt Müllner: "Deshalb darf bei schwerer Beeinträchtigung der Nierenfunktion Pradaxa nicht eingesetzt werden." Vor Therapiebeginn sollte immer die Nierenfunktion überprüft werden. "Bei über 75-Jährigen muss die Nierenfunktion zusätzlich ein Mal jährlich kontrolliert werden", betont Müllner - und zwar durch das Sammeln und Analysieren von Harn über 24 Stunden. "Auch bei kurzfristig auftretenden Situationen, die zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion führen können, etwa übermäßiger Flüssigkeitsverlust durch Hitze, Durchfall, Fieber, ist eine Kontrolle notwendig. " Kritiker argumentieren, dass dies in der Praxis sehr schwierig durchzuführen ist. Die einfachere Einnahme führe letztlich zu einer schlechteren Kontrolle.
Was sagen die Behörden?
Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA hat erst im Oktober Pradaxa neu analysiert. "Nach unserem derzeitigen Wissen ist bei einer guten Einstellung der Nutzen größer als das Risiko", sagt Müllner. Es gibt aber strenge Auflagen: So müssen die Ärzte ein umfangreiches, von den Behörden geprüftes Informations- und Trainingspaket erhalten. In Patientenausweisen muss die Behandlung dokumentiert werden.
Worauf müssen Ärzte noch speziell achten?
"Dass die Anwendung eingeschränkt ist", betont Müllner: Die Patienten müssen in der Regel über 75 sein und zumindest einen weiteren Risikofaktor (z. B. früherer Schlaganfall, eingeschränkte Linksherzfunktion) aufweisen. "Bei jüngeren Patienten über 65 müssen zusätzliche Risikofaktoren wie Diabetes, Herzgefäßerkrankung oder Bluthochdruck vorliegen. "
Sollen Patienten Pradaxa eigenmächtig absetzen?
"Auf keinen Fall", warnt Müllner. "Wer dies etwa nach einer Hüft-OP tut, riskiert damit eine tiefe Beinvenenthrombose. "