„Es gibt keinen Grund, nicht mit dem Rauchen aufzuhören“
Wie gelangen neue Medikamente und Behandlungsmethoden rasch zu Patienten? Welche pharmazeutischen Innovationen erscheinen weltweit? Wie können Krankheiten besser und zielgerichtet behandelt werden? Um die Antworten auf diese Fragen kümmert sich Dr. Michael Binder mit seinem Team tagtäglich. Der ausgebildete Dermatologe ist Chief Medical Officer des Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV).
„Wir befinden uns in einer der wenigen Phasen der Geschichte, wo wir tatsächlich von einer medizinischen Revolution sprechen können“, sagt er mit tiefer Stimme. Erkrankungen, die bisher kaum oder nicht behandelbar waren, könnten zum ersten Mal durch medikamentöse Therapien zielgerichtet angegangen werden. „Präzisionsmedizin sagt man in Fachkreisen dazu“, erklärt Binder. Hauptsächlich betreffe dies onkologische Krankheiten. „Da hat sich wirklich Unglaubliches getan in den letzten fünf Jahren.“
Der immense wissenschaftliche Aufbruch in der Onkologie sei dadurch zu erklären, dass diese Art der Krankheiten ganz besonders häufig auftreten. Aber auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sei die Mortalitätsrate nicht unbeträchtlich. Und auch hier gebe es massiven Fortschritt. So sei es heutzutage bereits möglich, enge Gefäße mit Stents (Implantate) nicht mehr bloß zu dehnen, sondern auch gleichzeitig mit der Aufdehnung Medikamente punktgenau abzusetzen, um eine lebensbedrohliche Arteriosklerose zu verhindern.
Dass Binder die aktuelle Debatte um den Nichtraucherschutz minutiös verfolgt, ist selbstredend. Aber politisch möchte er nicht werden. „Mir geht es um die Fakten. Das Rauchen gehört ganz sicherlich zu jenen krebsauslösenden und krankheitsauslösenden Ursachen, die am einfachsten zu verhindern sind. Nämlich durch Aufhören.“ Das funktioniere bei vielen anderen Ursachen ja schlichtweg nicht. „Es gibt praktisch zu allen Gesundheitsfragen fast immer einen Punkt, der mit dem Rauchen zu tun hat. Und da sprechen wir nicht nur von Krebs, auch etliche chronische Erkrankungen werden durch das Rauchen ausgelöst. Es gibt keinen einzigen Grund, warum man nicht mit dem Rauchen aufhören sollte.“
Binder wünscht sich ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein in unserer Gesellschaft. Wir hätten es aktuell in unserer industrialisierten Welt mit einer Reihe an Gesundheitsherausforderungen zu tun, aber das Rauchen sei ein wesentliches Problem. „Ein weiteres ist Bewegungsmangel, der führt zu einem Mangel an Muskulatur, höherem Körpergewicht, höherem Blutzucker und infolge dessen kann es zu Gefäßerkrankungen und Herzinfarkten kommen.“ Ungesunde Ernährung und psychische Erkrankungen komplettieren die Gefahrenbereiche.
Um viele Lösungen dieser angesprochenen Risiken müssten sich andere Institutionen als das Krankenhaus kümmern. „Da könnten wir Einiges verbessern. Das beginnt wahrscheinlich schon im Kindergarten und setzt sich in den Schulen fort“, sagt Binder und verweist auf den Begriff „Health Literacy“, also Gesundheitskompetenz. Schon im frühen Alter mit dieser Art der Bildung zu beginnen, sei besonders wichtig. Also beispielsweise Kochen an den Schulen und ausreichend Bewegung. Hier schneide Österreich im Vergleich zu anderen Ländern schlecht ab. „Da müssten wir viel mehr investieren, um eben ein kollektives Verständnis und Bewusstsein für unsere Gesundheit und deren Wert zu schaffen.“
Selbstverständlich würden wir nie in der Lage sein, Krankheiten komplett zu verhindern, dafür gäbe es die Spitäler. Aber durch präventive Handlungen wäre enorm viel im Vorfeld zu vermeiden. „Wenn manche Erkrankungen einmal im Krankenhaus angekommen sind, müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, ob alles investiert worden ist, ob alle präventiven Möglichkeiten eingesetzt worden sind, die wir heute kennen.“ Derzeit gebe es hier noch viel Luft nach oben, obwohl auch viel geschehe. Das zeige sich besonders anschaulich am aktuellen Beispiel der Raucherdebatte.
„Es ist nicht so leicht, mit dem Rauchen aufzuhören“, sagt Binder. Der Suchtfaktor sei unterschätzt. Sowohl die Substanz als auch die Haptik würden abhängig machen. Besonders betroffen zeigt sich Binder über den sehr hohen Anteil an jugendlichen Rauchern hierzulande. „In den skandinavischen Ländern ist das überhaupt nicht mehr so und genau das hat mit der bereits angesprochenen Bewusstseinsbildung und Vorbildwirkung in der Gesellschaft zu tun.“ Binder zeigt sich jedoch optimistisch. „Das wird sich auch bei uns in Österreich in den kommenden Jahren dahingehend entwickeln. Alleine die derzeitige Diskussion ums Rauchen zeigt das. Diskussion ist immer etwas Gutes.“
"Wir müssen auf alle Rücksicht nehmen"
Verfolgt man die aktuelle Diskussion um das Rauchen und den Nichtraucherschutz, tauchen auch immer wieder Argumente auf, die auf die Verteilung der Ressourcen und eventuelle Ungerechtigkeiten unseres Systems abzielen. Warum sollte ein sportlicher, ernährungsbewusster Nichtraucher beispielsweise die Behandlungskosten eines übergewichtigen, starken Rauchers tragen? Binder winkt hier sehr rasch ab. „Österreich hat ein soziales und solidarisches Gesundheitssystem. Dieses sollte alle Spektren der Menschen berücksichtigen. Und es gibt nunmal solche und solche Menschen. Wenn wir in einer solidarischen Gesellschaft leben, müssen wir auf alle Rücksicht nehmen und niemanden ausgrenzen. Denn das macht uns aus.“ Unser sozial-solidarisches Netz sei eine der wesentlichsten Errungenschaften, das wir mit aller Kraft verteidigen und pflegen müssten. „Wir können gar nicht genug stolz drauf, sein, dass wir das geschafft haben“, sagt Binder. „Das müssen wir wie einen Schatz bewahren.“
Binder selbst hat zwei Jahre in den USA gelebt, wo meist kein solidarisches Gesundheitssystem herrscht. „Zwei Drittel aller Privatkonkurse dort sind durch medizinische Rechnungen verursacht. 75 Prozent der Population sind nicht das ganze Jahr durchgehend versichert. Ich habe das vor Ort beobachtet, wie das ist, wenn Menschen sich fürchten, chronisch krank zu werden. Glauben Sie mir, das wünschen wir uns nicht.“
Was bringt die Zukunft?
Was Binder jetzt schon sagen kann: „Der klassische stationäre Krankenhausaufenthalt wird sich stark reduzieren.“ Patienten werden mobiler sein können. Sei es durch Erhöhung von tagesstationärer Betreuung oder auch durch vermehrte ambulante Behandlungen. Das bringe natürlich einige organisatorische Herausforderungen mit sich, da sich die Settings ändern, wenn die Patienten – bei denen es nicht unbedingt notwendig ist - nicht mehr im Spital wohnen. „Das meistern wir sicherlich sehr gut, denn unsere Ärzte sind hervorragend.“