Warum uns oft die Gier nach Süßem und Fettem überkommt
Von Ernst Mauritz
Schokoriegel, Süßigkeiten, Chips: Dem zu widerstehen, fällt oft schwer. Umso schwerer, je weniger man geschlafen hat. Schlafmangel erhöht das Risiko für Übergewicht. Der Spiegel des "Hungerhormons" Ghrelin steigt, jener des Sättigungshormons Leptin sinkt. Doch Forscher der Universität von Chicago, USA, haben jetzt noch einen weiteren Mechanismus entdeckt: Bei Schlafmangel steigt auch der Spiegel eines "Endocannabinoids", einer körpereigenen Substanz, die an die gleichen Zellstrukturen bindet wie die Cannabinoide in der Hanfpflanze. Diese Substanz erhöht das unbändige Verlangen nach Süßem und Fettigem:
Doppelte Fettmenge
Waren bei den Studienteilnehmern ungesunde Snacks in Reichweite, aßen sie in unausgeschlafenem Zustand beinahe die doppelte Fettmenge wie an Tagen, an denen sie acht Stunden geschlafen hatten. Und sie konnten Schokoriegeln auch dann viel schwerer widerstehen, wenn sie erst zwei Stunden davor 90 Prozent ihres täglichen Kalorienbedarfs gedeckt hatten. Am stärksten war der Effekt am späten Nachmittag und am frühen Abend – da snackten die Studienteilnehmer mit Schlafmangel am meisten, und da war auch der Spiegel des Endocannabinoids am höchsten.
Effekt beim Kalorienkonto: Mehr als 300 zusätzliche Kilokalorien an Tagen mit wenig Schlaf. "Über eine längere Zeit kann das eine deutliche Gewichtszunahme verursachen."
"Verlangen nach Belohnung"
"Endocannabinoide können das Verlangen nach Belohnung erhöhen", sagt der Stoffwechselspezialist Univ.-Prof. Thomas C. Wascher vom Hanusch-Krankenhaus in Wien. "Und für viele ist das Essen von Süßem mit einem Belohungsfaktor verbunden."
Wascher betont aber, dass "viele Faktoren für die Entstehung von Übergewicht verantwortlich sind" – und nicht jeder von Schlafmangel Geplagte reagiert mit einem solchen unkontrollierbaren Verlangen nach Snacks und Gewichtszunahme. "Es gibt auch sehr schlanke Wenigschläfer, die ihr persönliches Schlafbedürfnis oft überhaupt nicht abdecken." Die Studie sei aber "ein weiterer Baustein für die Erklärung der Entstehung von Übergewicht".
Kein Umkehrschluss
Vor allem warnt Diabetes-Experte Wascher vor folgendem Umkehrschluss: "Zu glauben, wir schlafen alle mehr und dann gibt es weniger Übergewicht in der Welt, das ist eine Illusion."
Ganz generell spielen aber Lebensstil- und Umweltfaktoren bei Übergewicht eine große Rolle: Schlafmangel, Stress und Schichtdienst sind dabei besonders bei Frauen starke Risikofaktoren, so die Spezialistin für Gechlechtsspezifische Medizin, Univ.-Prof. Alexandra Kautzky-Willer: "Chronischer Stress verursacht komplexe Veränderungen des Hormonhaushalts und gerade bei Frauen of stressbedingte Heißhunger und Ess-Attacken."
Werden übergewichtige Kinder wegen ihres Aussehens gehänselt, haben sie auch noch als Erwachsene Probleme beim langfristigen Abnehmen. Gelang es ihnen, Kilos zu reduzieren, konnten sie ihr neues, niedrigeres Gewicht weniger lang stabil halten wie Menschen, die in ihrer Kindheit nicht verspottet wurden.
Das ergab eine Studie des „Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums Adipositas-Erkrankungen“ (IFB) der Universitätsmedizin Leipzig mit 381 Frauen und Männern mit (früherem) Übergewicht. Der Hauptgrund: Bei Ärger, Stress, Traurigkeit, Langweile oder ähnlichen negativen Emotionen versuchten sie stärker als in der Kindheit unbelastete Menschen, durch Essen wieder eine positive Stimmung zu erreichen.
Vieles noch unbekannt
Den untersuchten Personen war es gelungen, ihr Gewicht im Schnitt um zehn Prozent zu senken und diese Verringerung über mindestens ein Jahr durchzuhalten. Bei den in ihrer Kindheit Hänseleien ausgesetzten Teilnehmern war dieser Zeitraum jedoch kürzer, und die neuerliche Gewichtszunahme danach höher.
„Forscher und Ärzte wissen bisher aber wenig darüber, wie sich Stigmatisierung auf die Entwicklung des Gewichts auswirken“, unterstreicht Prof. Anja Hilbert, Leiterin des Forschungsbereichs Verhaltensmedizin des IFB.
Gravierende Auswirkungen
Die Stigmatisierung von Menschen mit starken Übergewicht hat viele weitere gravierende Auswirkungen, wie etwa ein negatives Selbstbild, Essstörungen und sogar Depressionen. „Nur ein anhaltend niedrigeres Körpergewicht hilft, die schweren Folgeerkrankungen einer Adipositas wie Diabetes, Arteriosklerose, Fettleber oder Bluthochdruck zu reduzieren“, erläutert die Psychologin Claudia Hübner. Durch Training lernen die Betroffenen, wann sie mit Essen auf negative Gefühle reagieren und welche alternativen Verhaltensweise möglich sind. Derzeit schaffen es nur ein gutes Drittel der Menschen mit starkem Übergewicht, eine erfolgreiche Gewichtsreduktion langfristig zu halten. LAURA OZAWIESA SOLOMON