Wachstum: Wie Europa Groß-Macht wurde
Der preußische Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (1688 bis 1740) war stolz auf seine „Langen Kerls“: Hoch gewachsen musste sein Leib-Bataillon sein. Unter 188 Zentimeter ging da gar nichts. Damit würde heute niemand mehr groß Eindruck schinden. Jeder durchschnittliche Wehrpflichtige erreicht knapp 180 Zentimeter. In den vergangenen 100 Jahren sind die Europäer glatt um elf Zentimeter in die Höhe geschossen.
Woher man das weiß? Der britische Ökonom Timothy Hatton von der Universität Essex hat für eine neue Studie Daten aus den Jahren 1870 bis 1980 zur Größe von etwa 21 Jahre alten Männern aus 15 europäischen Ländern analysiert – darunter auch Österreich. Und kam zum Schluss, dass Europa im vergangenen Jahrhundert zur Groß-Macht herangewachsen ist.
Ganz neu ist die Erkenntnis nicht. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigen sich Forscher, vor allem Wirtschaftshistoriker, mit der Anthropometrie. Hauptquellen sind, wie auch bei Hatton, Größen-Angaben in Musterungslisten des Militärs, Gefängnis-Karteien und Zeitungsarchive. So hat der Münchner Wirtschaftshistoriker John Komlos herausgefunden, dass die US-Amerikaner seit den 1950er-Jahren nicht mehr wachsen und von den Europäern überholt wurden. Er stellte fest, dass Großstädter größer sind als die Landbevölkerung, Menschen mit besserer Bildung und höherem Einkommen die Unterschicht eines Landes überragen.
Eine boomende Wirtschaft alleine hilft in Sachen Wachstum aber nichts – siehe USA oder China (Durchschnittsgröße 1,65 m): „Nur dort, wo das Sozialsystem verarmte Menschen, Arbeitslose, Alleinerziehende und Obdachlose auffangen kann, wachsen auch die Menschen“, sagt John Komlos. „Tatsächlich sind die Holländer, Schweden und Norweger derzeit die Größten der Welt“ (siehe Grafik).
„Die Zunahme der Körpergröße ist ein Schlüsselindikator für Verbesserungen der Volksgesundheit“, sagt auch Hatton anlässlich der Präsentation seiner neuen Studie. Erstaunlicherweise hat er auch festgestellt, dass die Durchschnittsgröße der Nord- und Westeuropäer während der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise stärker zugelegt hat als in den Jahren davor und danach.
Weniger Kinder
Medizinische Durchbrüche oder nationale Gesundheitsprogramme können dafür nicht verantwortlich gewesen sein, erklären die Forscher. Diese hätten sich erst in den Jahrzehnten darauf großflächig ausgewirkt. Allerdings seien damals weniger Kinder geboren worden, und geringere Familiengrößen korrelieren stets mit Längenwachstum. Das Gesamt-Plus von elf Zentimetern lasse sich auf Faktoren wie höhere Pro-Kopf-Einkommen, bessere Sanitäreinrichtungen, vermehrtes Wissen über Gesundheit und Ernährung sowie ausgebaute Gesundheitssysteme und insgesamt bessere Lebensumstände zurückführen.
Die Größe eines Menschen entwickelt sich aus dem feinen Wechselspiel zwischen den Bedingungen während Schwangerschaft, Kindheit und Jugend sowie den Genen. Dabei gibt das Erbgut den Rahmen vor. Mittlerweile haben Forscher 64 Gen-Orte identifiziert, die mit dem Längenwachstum in Zusammenhang stehen. Wie weit ein Mensch sein Gen-Potenzial ausschöpft, das vielleicht zwischen 1,60 m und 1,83 m liegt, hängt aber von äußeren Bedingungen ab.
Apropos: Wäre Ban Ki-moon in Nordkorea statt in Südkorea zur Welt gekommen, wäre er heute nicht UN-General; und statistisch um sechs Zentimeter kleiner. Die Nordkoreaner sind nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch nicht mehr gewachsen.