Attacke gegen Nahrungskonzerne
Von Ernst Mauritz
Die Zeitschrift ist eines der renommiertesten Wissenschaftsmagazine der Welt – und die Autoren kommen von führenden Unis der Welt: In einem Artikel für The Lancet üben Mediziner, Soziologen und Gesundheitsexperten harte Kritik an internationalen Lebensmittelkonzernen: „Multinationale Nahrungs-, Getränke- und Alkoholkonzerne nutzen ähnliche Strategien wie die Tabakindustrie, um die öffentliche Gesundheit zu unterminieren.“
Die Expertenvorwürfe im Detail
Anstieg An nicht übertragbaren bzw. nicht ansteckenden Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfall, Krebs etc. sterben weltweit bereits 65 Prozent aller Menschen. Bis 2030 könnte dieser Prozentsatz noch weiter zunehmen. Internationale Lebensmittelkonzerne seien mit ihren Produkten als maßgebliche treibende Faktoren für diese Epidemien mitverantwortlich und profitierten vom steigenden Konsum dieser ungesunden Produkte wie stark verarbeitete Lebensmittel (Fertigmahlzeiten) und Getränke.
Strategie Die Alkohol- und Lebensmittelindustrie nütze ähnliche Strategien wie die Tabakindustrie, um die Gesundheitspolitik zu untergraben – indem sie etwa in der Öffentlichkeit „quasi unabhängige“ Lobby-Organisationen vorschieben, die einseitige Daten veröffentlichen sowie Lobbyarbeit bei Politikern und Behörden betreiben. Auch einseitige Selbstverpflichtungen der Industrie, z. B. zur Begrenzung von Salz oder Zucker, seien zu wenig.
Einseitige Studien Von der Nahrungsmittelindustrie gesponserte Studien liefern mit einer vier- bis achtfach höheren Wahrscheinlichkeit ein den finanziellen Interessen des Sponsors entsprechendes Ergebnis wie Studien ohne derartige Unterstützung.
Aggressive Werbung Systematische und aggressive Marketingkampagnen u. a. für verarbeitete Lebensmittel und Getränke erhöhen die Nachfrage. Die Autoren empfehlen deshalb Maßnahmen zur Reduktion von Werbung und Sponsoring, um so die Zahl der Todesfälle und Behinderungen durch nicht übertragbare Krankheiten zu reduzieren. Die teilweise sehr niedrigen Preise für energiereiches Essen und zuckerhaltige Getränke würden das Problem zusätzlich noch verschärfen. „Es werden massive Anstrengungen notwendig sein, um das internationale Ziel – 25 % weniger frühzeitige Todesfälle durch nicht-infektiöse Krankheiten bis 2025 – zu erreichen.“
„Für Werbeverbot“
„Ich unterstütze jede Bestrebung für ein Werbeverbot für Nahrungsmittel“, sagt der Innsbrucker Internist und Ernährungsmediziner Univ.-Doz. Maximilian Ledochowski. „Denn mit Werbung verführe ich die Menschen, mehr zu essen, als eigentlich notwendig ist.“
Ledochowski fordert auch eine Beweislastumkehr: „Wenn jemand an einem bestimmten Leiden erkrankt und es einen Verdacht auf einen Zusammenhang mit Nahrungsmitteln gibt, müsste der Hersteller nachweisen, dass seine Produkte nicht verantwortlich sind – und nicht der Konsument den Beweis führen müssen, dass ein Produkt die Ursache war.“
Ledochowski hat eine – noch nicht veröffentlichte – Studie mit Cornflakes durchgeführt: „Von 985 Patienten, die eine kleine Schüssel gegessen haben, berichteten 40,5 Prozent von Nebenwirkungen wie vor allem Bauchschmerzen, Schwindel, Kopfschmerzen, Aufstoßen und Müdigkeit innerhalb der nächsten zwei Stunden. Den Ursachen dafür müsste mehr nachgegangen werden.“
Ein Problem sei auch, dass viele Nahrungsmittel immer konzentrierter seien: „Niemand kann fünf Stück Obst auf einmal essen. Mit einem Smoothie aber geht es. Damit nehme ich aber viele Inhaltsstoffe sehr konzentriert auf.“ Durch Überdecken von Bitterstoffen, z.B. durch hohe Zuckermengen in Kaffee-Fertigmischungen, sei es möglich, deutlich größere Koffeinmengen aufzunehmen: „Solche Summationseffekte berücksichtigt derzeit niemand. So werden aber immer mehr Menschen krank und entwickeln ,Nahrungsmittelunverträglichkeiten‘, die es früher nicht gab.“
80.000 Betroffene
Zwei Krankheitsbilder Genaue Zahlen gibt es nicht, aber nach Schätzungen sind zwischen 40.000 und 80.000 Österreicher von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen betroffen: Morbus Crohn (MC) und Colitis ulcerosa (Cu). Beide treten in Schüben auf, wobei Häufigkeit und Intensität der Schübe sehr unterschiedlich sind. 20 Prozent sind mit Dauerbeschwerden konfrontiert.
Gipfel in der Pubertät Bis zu 40 Prozent der Erkrankungen werden vor dem 20. Lebensjahr diagnostiziert, einen Gipfel gibt es zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr. Die meisten jungen Erwachsenen erkranken zu Beginn des dritten Lebensjahrzehnts. Häufig ist ein dauerhafter Einsatz von Medikamenten notwendig.
Evelyn Gross war 17, als erstmals massive Darmprobleme mit schweren, blutigen Durchfällen aufgetreten sind: „Das ist die Regel“, hatte damals, vor 23 Jahren, jemand aus der Verwandtschaft gemeint. Völlig falsch: Ursache war eine chronisch entzündliche Darmerkrankung (Morbus Crohn). Heute leitet sie eine Jugendgruppe der Selbsthilfeorganisation ÖMCCV (Österreichische Morbus Crohn Colitis Ulcerosa Vereinigung) und sieht alltäglich, wie die Zahl der Betroffenen steigt.
„In den vergangenen 50 Jahren sind chronisch entzündliche Erkrankungen – neben den Darmerkrankungen u. a. auch Asthma oder Typ-1-Diabetes – in den Industriestaaten um das 10- bis 15-Fache angestiegen“, sagt der Gastroenterologe Univ.-Prof. Wolfgang Reinisch von der MedUni Wien anlässlich eines europäischen Kongresses zu dem Thema in Wien. „Noch erschreckender ist aber die Tatsache, dass gerade bei den Darmerkrankungen Kinder und Jugendliche verstärkt betroffen sind.“ So zeigte eine dänische Studie einen Anstieg der Fälle unter Kindern innerhalb von nur zehn Jahren um 50 Prozent.
Die Ursachen sind ungeklärt: „Nur ein geringer Teil der Erkrankungen kann auf eine genetische Veranlagung zurückgeführt werden. Die Hauptursachen scheinen in belastenden Umweltfaktoren zu liegen.“ Reinisch: „Unausgewogene Ernährung, Medikamente wie Antibiotika, Rauchen, Stress, Lebensstil und Lebensumfeld in den Städten sowie übertriebene Hygiene scheinen die Entwicklung dieser Erkrankungen zu fördern.“ – „Doch letztlich wissen wir nicht, warum immer mehr Jugendliche erkranken“, betonte die dänische Medizinerin Tine Jess in Wien. Die Lebensmittelverarbeitung könnte hier eine Rolle spielen.
Mangelnde Akzeptanz
„Betroffene Kinder und Jugendliche leiden häufig darunter, dass ihre Umgebung die Erkrankung lange Zeit nicht erst nimmt, sie als Hypochonder abtut, weil sie so oft auf die Toilette müssen“, sagt Gross: „Viele ziehen sich deshalb zurück, können ihre Ausbildung aufgrund der massiven Darmprobleme nicht oder nicht rechtzeitig abschließen. Und zusätzlich werden ihnen Steine in den Weg gelegt, die nicht sein müssten.“
Auch wenn noch keine Heilung möglich ist: Eine frühe Diagnose und Therapie kann bei vielen den Krankheitsverlauf deutlich verbessern. „Viele können dann ein weitgehend normales Leben führen“, betont Gross.
„Durch Sparmaßnahmen sind die österreichischen Spezialambulanzen jedoch in ihrer Existenz bedroht“, warnt der Gastroenterologe Univ.-Prof. Gottfried Novacek. Manche Ambulanzen seien personell unterbesetzt: „Dadurch wird es für die Patienten leider schwieriger, in angemessener Zeit eine kompetente Behandlungsstelle aufsuchen zu können.“