Sterbehilfe: "Das ist nicht human, so zu leiden"
Jeden Tag genießen, alles dafür geben, gesund und in sich ruhend zu leben. So hört sich Marks Lebensmotto an, wenn der 66-jährige Belgier erzählt, wie er Streit in der Familie umgeht. Wie sich der drahtige, begeisterte Kunstsammler vegan ernährt. Wie er jeden Tag durch die noblen Vorortstraßen der belgischen Küstenstadt Knokke joggt. Das florierende Hotel hat er seiner Tochter überschrieben, Mark ist schon längst wieder damit beschäftigt, ein neues Haus zu bauen. Ausgerechnet ihn, den Umtriebigen, den Lebenshungrigen, bat eine seiner liebsten Bekannten: „Ich möchte sterben. Wirst du mich begleiten?“
Schon vor einigen Jahren hatte man bei Rolande Brustkrebs diagnostiziert. Nun war es unausweichlich: Keine Chance auf Heilung mehr für die Pensionistin. Die zwanzig Jahre ältere, stets äußerst gepflegte Dame fragte Mark: „Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Und er zuckt ein wenig zusammen, als er sich an seine Antwort damals erinnert: „Diese Entscheidung kann ich nicht für dich treffen. Aber was immer du wählst, ich werde für dich da sein.“
Liberalste Sterbehilferegelung der Welt
Seit in Belgien vor 15 Jahren die aktive Sterbenhilfe straffrei wurde, haben bereits mehr als 15.000 Menschen ihr Leben durch Euthanasie gelassen. Was in Österreich streng verboten ist, ist in Belgien weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. Der Begriff „Euthanasie“ – bei uns wegen der systematischen Tötung Zigtausender Behinderter und Kranker während der Nazi-Zeit tabuisiert – wird in Belgien unbelastet verwendet. Drei Viertel der Bevölkerung heißen es gut, dass es die Möglichkeit zur Euthanasie gibt. Seit drei Jahren dürfen auch Kinder um Sterbehilfe ansuchen, nirgendwo sonst auf der Welt ist dies möglich.
Das Gesetz schreibt strenge Kriterien vor: Der Sterbewillige muss unheilbar krank sein, unerträglich und dauerhaft psychisch oder physisch leiden. Den Sterbewunsch muss er bei vollem Bewusstsein, freiwillig, deutlich, mehrmals und ohne Druck geäußert haben. Davon, dass der Patient sich bereits im Endstadium einer tödlichen Krankheit befinden muss, ist im Gesetz allerdings nichts zu finden.
Rolande hatte ihrem Arzt gesagt, dass sie nicht mehr leben wolle. Wie bei jedem Euthanasie-Antrag in Belgien mussten zwei weitere Ärzte das „unerträgliche“ und „ausweglose Leiden“ der Patientin bestätigen, ehe das Verfahren eingeleitet werden darf. Jeder einzelne Fall wird genauestens dokumentiert, die Bundes-Kontroll- und Bewertungskommission zur Euthanasie prüft alle Vorgänge.
Zwei Monate vergingen, so erzählt Mark, von dem Moment an, wo Rolande sich entschloss, zu sterben bis zum Tag ihres Todes. „Immer wenn ich sie ins Spital gefahren habe und das Auto nur ein bisschen geruckelt hat, entkam ihr ein tiefes Stöhnen“, erinnert sich ihr Freund. „Sie muss furchtbare Schmerzen gehabt haben. Ihr Bauch war voller Blasen und riesiger Knoten, ihr ganzer Körper ist kaputt gegangen. Das ist nicht human, so zu leiden.“
"Banalisierung der Euthanasie"
Es gebe sehr wohl medizinische Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern und den Sterbenden auf ihrem Weg eines natürlichen Todes in Würde zu begleiten, meint hingegen Carine Brochier. Vor 15 Jahren, sagt die Gegnerin des Euthanasie-Gesetzes und Leiterin des Europäischen Bioethik-Institutes in Brüssel, „hatten wir nur einige, wenige Fälle. 2015 waren es schon über 2000. Das Angebot schafft die Nachfrage. In diesem Land wird die Euthanasie präsentiert, als wäre es die „normale“ Art zu sterben. Auf diese Weise wird es ganz alltäglich, vom Arzt den Tod zu verlangen. Wir haben es mit einer Banalisierung der Euthanasie zu tun.“
Diese Möglichkeit, das Leben auf Wunsch zu beenden, habe ein Tor geöffnet, befürchtet Brochier. Und der Weg führe immer weiter – in die Entsolidarisierung einer ganzen Gesellschaft. „Was wird aus uns, wenn wir nicht nur den Selbstmord akzeptieren, sondern auch die Tatsache, dass ein Mensch einem anderen den Tod geben darf?“ Wenn Patient, Familie, Arzt und Staat sich geeinigt hätten: Man habe alles unter Kontrolle, alles sei strengstens geregelt. Das sei dann geradezu, als ob man sagen würde, ereifert sich die sonst so unemotional argumentierende Carine Brochier: „Du willst sterben gehen? Na, dann geh nur......“
Die katholische Kirche im Land ist strikt gegen Euthanasie. Aber auch zahlreiche Ärzte, Krankenschwestern und Psychologen haben Gegenkampagnen gestartet. Sie wollen Patienten die Möglichkeit bieten, sie auf dem Weg zu einem natürlichen Tod zu begleiten.
Psychisch Kranke
Widerstand regte sich zuletzt in Belgien vor allem angesichts der steigenden Zahl psychischer Kranker, die durch Euthanasie sterben – rund 60 Personen im Schnitt pro Jahr. Mediale Aufmerksamkeit erlangten dabei besonders die 15 Pflegheime für psychisch Kranke der Barmherzigen Brüder in Belgien. Trotz der Aufforderung des Vatikan, die Euthanasie dort sofort zu beenden, beharrt die säkulare Administration der Heime darauf: Man halte sich an alle Gesetze, kein Arzt werde gezwungen, aktive Sterbehilfe zu leisten. Und was den Sterbewunsch unerträglich leidender psychisch Erkrankter angehe, müsse auch bei ihnen strengstens nachgewiesen sein, dass alle Therapien versagt hätten und keine Aussicht auf Linderung mehr bestehe.
Mehr als zwei Drittel aller Sterbewilligen sind Krebskranke im Endstadium. Die Patientengruppe, die derzeit am stärksten wächst, sind aber jene Personen, die an mehreren, oft altersbedingten, schweren Leiden laborieren. Keine von ihnen allein wäre tödlich. Zusammengenommen (Polypathologie) – etwa Erblindung, Taubheit, Osteoporose, Bewegungsunfähigkeit – rauben sie Kraft und Lebenswillen.
Wachsender Druck auf die Alten
Und dann gäbe es auchnoch den wachsenden Druck auf die Alten, sagt Carine Brochier. Weniger eine direkte Aufforderung der Verwandten an Euthanasie zu denken, als vielmehr der eigene Druck. „Dann beginnt sich die betagte Mutter oder der Onkel zu sagen: Aber ich will ja niemandem zur Last fallen.....“
Knapp ein Zehntel aller Euthanasie-Fälle betrifft polypathologische Leiden – wie etwa das Zwillingspaar Marc und Eddy Verbessem. Taubstumm geboren waren die belgischen Brüder einander stets engstens zugetan. Als sie erfuhren, dass sie beide erblinden würden, baten sie um Euthanasie. Das erste Spital wies das Ansinnen des 39-jährigen Brüderpaares zurück. Doch ein Krankenhaus in Brüssel sah es als „unerträgliches Leiden“ an, dass die Brüder nicht mehr miteinander kommunzieren würden können. Drei Ärzte haben es bestätigt. Am 14. Dezember 2012 starben Marc und Eddy Verbessem gemeinsam.
Die Freiheit, zu wählen
Ein katholischer Priester hat die beiden Männer beim Sterben begleitet, sagt Anwältin Jacqueline Herremans. Und nach den Worten der wohl bekanntesten Fürsprecherin des Sterbehilfegesetzes in Belgien „ist es eine Tatsache, dass auch Priester hier mit Euthanasie gestorben sind.“ Vorwürfe, wonach Sterben mit Euthanasie in Belgien „fast schon das normale Sterben“ sei, weist die Vorsitzende der „Gesellschaft für das Recht in Würde zu sterben“ entschieden zurück. „Das Ziel ist nicht die Euthanasie. Bis zum letzten Moment wird der Arzt immer wieder fragen: Ist das wirklich Ihr Wunsch? Der Patient muss immer selbst entscheiden, aber es geht um die Möglichkeit. Um die Freiheit, diese Möglichkeit zu wählen.“ Zentraler Angelpunkt des Gesetzes sei die Autonomie des Patienten, die Freiheit selbstbestimmt über seinen Tod zu entscheiden.
Mehr als 80 Prozent der mit Euthanasie Gestorbenen haben alle anderen Weg ausgeschöpft. „Manchmal kann die Möglichkeit zur Euthanasie sogar Leben retten“, erzählt Herremans. Sie schildert den Fall einer an Gehirntumor erkrankten Freundin. Diese ließ sich auf die riskante Behandlung nur ein, weil sie wusste: Geht alles schief, kann sie Sterbehilfe beantragen. „Sie hat die Behandlung gewagt – und ist heute gesund.“
Sterben als Teil des Lebens
Seinen eigenen Vater hat Mark qualvoll sterben gesehen. 58-jährig wog der Todkranke in seinen letzten Tagen nur noch 40 Kilo, aktive Sterbehilfe gab es in Belgien damals noch nicht. Aus Sicht Marks ist es „nicht menschlich, so zu sterben. Will man unfassbar leiden oder in Würde auf Wiedersehen sagen?“, fragt er. Dass seine todkranke Freundin Rolande sich zur Euthanasie entschloss, konnte er nur zu gut verstehen. „Sterben ist Teil des Lebens“, sagt er, „aber es ist gut, dass wir die Freiheit haben zu entscheiden, wie wir sterben wollen.“
Im Schnitt sind es in Belgien fünf Menschen jeden Tag, die ihren letzten Weg mit Euthanasie antreten. Anfragen kommen dabei auch immer öfters aus dem Ausland. In Belgien aber wird dies nicht gern gesehen. Auch wenn das Land diesbezüglich die liberalste Gesetzgebung der Welt hat, will man nicht internationaler Zufluchtsort für Sterbewillige werden.
„Man kann nicht mit dem Koffer schnell mal hierher zum Sterben kommen“, schildert Jacqueline Herremans. „Zwischen Arzt und Patienten muss es eine Beziehung geben, und die baut man nicht über Telefon oder Skype-Gespräche auf.“ Ein bis eineinhalb Jahre müsse ein ausländischer Patient schon in Belgien gelebt haben.
Anne Merts letzter politischer Kampf
Anne Bert war im Dezember nach Belgien gezogen, um hier zu sterben. Die französische Romanautorin hatte aus ihrem letzten Weg einen politischen Kampf gemacht. Auch in Frankreich müsse das Recht auf einen selbstbestimmten Tod Gesetz werden, verlangte die an einer unheilbaren Muskelerkrankung leidende 59-Jährige. In den letzten Tagen vor ihrem Tod gab sie noch zornige Interviews, sie konnte kaum noch sprechen, sich nicht mehr bewegen. Vor einem Monat starb die Autorin an einem Tag ihrer Wahl in einem palliativen Zentrum in Belgien.
Auch Rolande hatte alles selbst noch vor ihrem Tod geregelt. Das Erbe, Benachrichtigungen an die Freunde. Mark war da, am Krankenbett seiner langjährigen Bekannten, Seite an Seite mit Rolandes Sohn. Zwei Ärzte hatten alles vorbereitet. Eine erste Injektion ließ die Sterbende einschlafen. Die zweite beendete Rolandes Leben. „Es ging so schnell, es hat keine zehn Sekunden gedauert“, sagt Mark. Über Rolandes letzte Momente will er nicht reden, nur : „Sie war gelöst, irgendwie fast froh.“ Im Gedanken an Rolande sagt er: „Sterben ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, die anderen zurückzulassen.“
Euthanasie in Zahlen in Belgien
Mehr und mehr Anträge:
Seit 15 Jahren ist die aktive Sterbenhilfe in Belgien straffrei. Im Jahr 2002 starben 24 Personen durch Euthanasie, 2015 (letzte verfügbare Zahlen) waren es bereits 2022, Tendenz weiter deutlich steigend. Insgesamt waren es in den vergangenen 15 Jahren rund 15.000 Personen. Seit 2014 darf Euthanasie auch an Kindern angewendet werden. Bisher gab einen Fall, ein 17-Jähriger Krebskranker bat um Sterbehilfe. 84 Prozent der Patienten waren über 60 Jahre alt, die stärkste Altersgruppe davon die 70- bis 79 Jährigen (27,3 Prozent)
Gründe der Patienten:
67,7 Prozent hatten Krebs im Endstadium, polypathologische Erkrankungen (9,7%), unheilbare Nervenerkrankungen (6,9%), psychische Erkrankungen (3,1%) und andere.
Ort des Sterbens:
45 Prozent starben daheim, 42 Prozent im Spital, der Rest in Pflegeheimen.