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Schwerelosigkeit verändert Gene

31-mal 22 Sekunden Schwerelosigkeit – das ist die Ausbeute, wenn Oliver Ullrich an Bord eines Airbus in die Luft geht und der Pilot die 31 Parabeln fliegt: „Während dieser Zeit können wir in unserem fliegenden Zellkultur-Labor untersuchen, wie Immunzellen auf die Schwerelosigkeit reagieren“, sagt der deutsche Weltraummediziner. Ullrich ist Gründungskoordinator von MARS, einem neuen interdisziplinären Forschungsnetzwerk (siehe unten).

Der Professor am Anatomischen Institut der Uni Zürich und Honorarprofessor für Weltraumbiotechnologie in Magdeburg sieht gewaltigen Forschungsbedarf: „Technologisch sind wir im Zeitalter der Raumfahrt, die biomedizinische Weltraumforschung steckt aber in der Steinzeit“. Fatal, denn die bemannte Raumfahrt ist in eine neue Ära eingetreten. Denn derzeit leben und arbeiten Astronauten nicht nur wenige Wochen, sondern viele Monate in Schwerelosigkeit.

KURIER: Die bemannte Raumfahrt steht vor einem Problem – das menschliche Immunsystem arbeitete in der Schwerelosigkeit nicht. Warum?

Oliver Ullrich: Das Immunsystem gehört zu den auf einem Raumflug am stärksten beeinträchtigten Systemen. Seit den ersten Apollo Missionen (in den 1970er-Jahren) ist bekannt, dass Astronauten unter einer Schwäche des Immunsystems und Infektionskrankheiten leiden (Atemwegserkrankungen, Harnwegsinfektionen, Hautpilze, schwer heilende Wunden und Viruserkrankungen im Nervensystem treten vermehrt auf). Die Ursachen liegen noch im Dunkeln. Stress und veränderte Schwerkraft auf Zellebene stehen im Verdacht. Die Probleme des Immunsystems begrenzen unsere Leistungsfähigkeit in Schwerelosigkeit und damit vielleicht auch die Präsenz des Menschen außerhalb des erdnahen Weltraums.

Das Gehirn könnte bei Langzeitflügen besonders gefährdet sein. Warum?

Das Immunsystem des Gehirns ist eine besonders heikle Angelegenheit. Bei einem „zu wenig“ an Immunüberwachung breiten sich unerwünschte Viren im Nervensystem aus. Bei einem „zu viel“ kommt es zu Entzündungen. Gerade im Gehirn ist daher eine hochfein regulierte Immunüberwachung überlebenswichtig. Bei Langzeitflügen auf der ISS oder ultralangen Missionen zum Mars besteht eine ganz reale Gefahr für das Gehirn.

Das ist also das Ende aller Träume vom Mars?

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Gestatten Sie mir eine persönliche Antwort: Raumfahrt war immer ein Risiko und wird immer ein Risiko bleiben. Oft wird daher gefordert, anstatt Menschen nur Roboter zu anderen Planeten zu senden. Aber die größten Entdeckungen wurden von Menschen gemacht, nicht von Maschinen. Des Menschen Intelligenz, Kreativität, Neugierde, und sein Mut, haben uns dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Daher denke ich, dass Menschen eines Tages zum Mars fliegen werden, auch wenn es die gefährlichste Reise ist, die man sich vorstellen kann.

Forschung in Schwerelosigkeit ist kaum möglich bzw. sehr teuer. Wie kommen Sie zu Ihren Erkenntnissen?

Wir führen Experimente auf Parabelflügen, Forschungsraketen und orbitalen Missionen wie z. B. auf der ISS durch.

Bei Parabelflug-Experimenten haben Sie herausgefunden, dass die verschiedenen Zelltypen des Immunsystems ganz unterschiedlich auf den Wegfall der Schwerkraft reagieren ...

... ja, Zellen des menschlichen Immunsystems reagieren innerhalb von Sekunden auf den Wegfall der Schwerkraft: In sogenannten „Fresszellen“ ist die Fähigkeit gestört, Krankheitserreger abzutöten, weiters gibt es eine massive Störung des Zell-Skeletts und wichtiger Moleküle, die erforderlich sind, um untereinander und mit anderen Zellen zu kommunizieren. In Lymphozyten wird ein Programm gestartet, das die Zellteilung stoppt. Die Aktivität vieler Gene war in beiden Zelltypen in der Schwerelosigkeit stark verändert. Die Schwerkraft ist anscheinend eine wichtige Bedingung für die Kontrolle der Gen-Aktivität.

Sie haben tatsächlich Auswirkungen auf das Genom festgestellt? Was passiert da?

Schwerelosigkeit verändert die Aktivität von Hunderten Genen innerhalb von Minuten. Es handelt sich um Gene, die an der Steuerung der Zellteilung, des Protein-Abbaus und der Signalverarbeitung beteiligt sind. Wir haben Ideen, woran das liegen könnte. Experimente werden zeigen, ob wir richtig liegen.

Ist das gefährlich? Lebensbedrohend? Können wir langfristig schwerelos überleben?

Das ist eine sehr gute und gleichzeitig eine sehr schwierige Frage. Vonseiten der Biologie wäre man geneigt, die Frage mit Nein zu beantworten. Die molekularen Veränderungen sehen dramatisch aus. Gleichzeitig ist es erstaunlich, wie sich der menschliche Organismus an veränderte Situationen anpassen kann. Trotzdem ist ein Langzeit-Raumflug eine gewaltige gesundheitliche Belastung: Der Abbau des Knochens und der Muskeln, die Störung des Immunsystems, womöglich auch schnelleres Altern. Aber zu wissen,wie sich die Zellen verändern, ermöglicht eine präzisere Einschätzung der Risiken eines Langzeit-Raumfluges und vielleicht die Entwicklung von Maßnahmen gegen die schädliche Wirkung der Schwerelosigkeit. Möglicherweise ist unser zellulärer Bauplan aber auch so ideal an die Erde angepasst, dass er ein Leben außerhalb der Schwerkraft der Erde auf Dauer unmöglich macht.

Mit MARS zum Mars

An der Uni Magdeburg beschäftigt sich das neue Forschungsnetzwerk MARS mit bisher ungelösten Problemen der Raumfahrt. Sieben Professoren (Mediziner, Naturwissenschaftler, Maschinenbauer, Verfahrens- und Systemtechniker) haben 23 Parabelflug-, fünf suborbitale und acht orbitale Forschungsprojekte (sechs davon auf der ISS) durchgeführt sowie mehr als 50 diesbezügliche wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Neben dem schwächelnden Immunsystem hoffen Ärzte auf neue Erkenntnisse für die Transplantationsmedizin, Physiker werden das Verhalten von Teilchen und Materialien untersuchen und Geophysiker sind Strömungen und Bewegungen der Erdschichten auf der Spur.

Bereits in den 1980er-Jahren konnte Augusto Cogoli von der ETH Zürich mit Experimenten an Bord der Spacelab-Missionen zeigen, dass bestimmte menschliche Immunzellen in Schwerelosigkeit nahezu vollständig ihren Dienst verweigern. Dieses Pionier-Experiment zeigte, dass die Schwerelosigkeit direkt auf die Zellen wirkt. Wie genau Säugetiere die Schwerkraft wahrnehmen, ist aber ein Rätsel.

Darum sind weitere Forschungen unerlässlich: In einem weltweit einzigartigen Forschungsvorhaben kooperieren Wissenschaftler der Uni Zürich daher seit zwei Jahren mit der Schweizer Luftwaffe. Im Rahmen regulärer, militärischer Übungsflüge mit Tiger-Kampfjets wird ein Parabelflug geflogen und so Schwerelosigkeit erzeugt. Während dieser Zeit führt eine im Tiger installierte Versuchsapparatur Experimente mit menschlichen Immunzellen vollautomatisch durch.

Ob die Veränderungen in den Immunzellen nur kurzfristig sind oder länger andauern, werden die Auswertungen der 2012 durchgeführten Versuche an Bord der Forschungsrakete „Texus-49“ und der chinesisch-deutschen Weltraummission „Shenzhou-8“ zeigen. Diese Daten aus fünf Minuten respektive zwei Wochen Schwerelosigkeit sind Basis für Experimente, die in den nächsten fünf Jahren auf der ISS unter Leitung von Oliver Ullrich durchgeführt werden.

Das internationale Forschungsvorhaben wurde in einem strengen Verfahren ausgewählt. Fünf hochkarätige Forscherteams aus der Schweiz, den USA, Russland und Deutschland werden untersuchen, ob und wie sich menschliche Zellen an veränderte Schwerkraft-Bedingungen anpassen können. Erforscht wird auch, ob diese Anpassung mit Medikamenten verbessert oder vielleicht überhaupt erst ermöglicht werden kann. Laut Ullrich haben Eingriffe mit Medikamenten nur dann eine Chance, wenn es gelingt, den molekularen Auslöser der Schwerkraft-Wahrnehmung in der Zelle zu finden.