Wenn der Arzt nicht weiter weiß
Von Ingrid Teufl
Mehrere schwere Schicksale im Berufs- und Privatleben innerhalb weniger Monate – Andrea B. ist keine, die so schnell aufgibt. Sie machte weiter. "Mein Motto war: Ich schaff’ das schon", sagt sie heute, zehn Jahre später. So war die aparte, groß gewachsene Frau ihr ganzes Leben lang mit Herausforderungen umgegangen.
Irgendwann schaffte es der Körper der damals 50-jährigen Wienerin nicht mehr. Starke Erschöpfungszustände, verbunden mit extremem Herzrasen machten ihr zu schaffen. "Es war so elementar, ich glaubte lange, ich sei wirklich schwer krank." Und so begann ein jahrelanger, anstrengender Marathon durch das Gesundheitssystem. Dass bei genauen Untersuchungen körperlich nichts gefunden wurde, beruhigte Andrea B. nur kurz. "Ich wusste ja, dass ich wirklich Beschwerden hatte. Man fühlt sich als Versager, als Simulant. Dieses Gefühl bringt einen wirklich an seine Grenzen."
Wechselwirkung
Geschichten wie jene von Andrea B. hören Neurologin Elisabeth Lazcano und Kardiologe Univ.-Prof. Severin Schwarzacher häufig. Oft stehen jahrelange Krankheitskarrieren dahinter, bis die Betroffenen an die richtige Stelle gelangen. Auch wenn sich langsam etwas ändert – im öffentlichen Gesundheitswesen wird diesem Thema noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Schwarzacher: "Die Patienten werden meist kategorisiert – und entweder internistisch oder psychisch und psychosomatisch durchgecheckt. Ein Fach bleibt dabei jeweils unterbelichtet." Der größte Fehler als Arzt sei zu sagen: "Sie haben nichts." Oder noch schlimmer: "Sie sind psychisch überlagert."
Lazcano ergänzt: "Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Psyche und somatischen Beschwerden, je nachdem, wo das Problem des Patienten liegt. Wir wissen heute, dass viele Probleme organisch einfach nicht nachvollziehbar sind." Wenn dann vom privaten oder beruflichen Umfeld auch noch ein "Reiß dich doch zusammen" kommt, mache das die Betroffenen erst recht fertig.
Zeitgleich
Im neuen "Psychosomatischen Zentrum" der Wiener "Confraternität Privatklinik Josefstadt" setzen die beiden ein neues Therapiekonzept um. Der Grundgedanke ist eine zeitgleiche Abklärung von körperlichen und psychischen Symptomen – ganzheitlich also, im wahrsten Wortsinn. Das heißt: Ein Termin beinhaltet automatisch 1,5 Stunden Gespräch mit Lazcano und eine halbe Stunde internistische Untersuchung bei Schwarzacher. Je nach Beschwerden mit Belastungs-EKG oder Bauchraumultraschall. "Dem Patienten sollen viele leere Kilometer erspart werden." Denn psychosomatische Beschwerden funktionieren nach eigenen Gesetzmäßigkeiten. So können körperliche Beschwerden wie etwa Herzschmerzen Ausdruck einer psychischen Belastungssituation sein. "Da ist es besonders wichtig, das rasch abzuklären und im Fall des Falles eine akute Aufnahme in der Klinik zu ermöglichen."
Für Andrea B. hat sich die Auseinandersetzung mit sich selbst rückblickend gelohnt. "Ich habe mich lange gewehrt, aber mittlerweile habe ich gelernt, mehr auf meinen Körper zu hören. Wenn mir jetzt etwas zu viel wird, ziehe ich mich zurück und gönne mir die Ruhe, die ich brauche. Es ist immer eine Gratwanderung, was man aushält und was nicht."
Sensibilisiert
Das sorgte in ihrem Umfeld, das die heute 60-Jährige als belastbare Anpackerin kannte, zwar durchaus auch für Erklärungsbedarf. "Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, dass auch eine starke Persönlichkeit Probleme haben kann", erklärt Neurologin Lazcano. Mittlerweile ist auch Andrea B.s Umfeld sensibilisiert. Was sie für sich selbst gelernt hat: "Ich habe auch jetzt immer wieder Phasen, wo ich mich sehr schlecht fühle. Aber ich habe gelernt, dass das nicht alles in meinem Leben ist. Ich bin auf einem Weg und ich bin noch nicht bereit, dass er zu Ende ist." Sie versuche immer, sich auch in schlechten Phasen die vorhandenen guten und schönen Aspekte ihres Lebens bewusst zu machen – und Zuversicht zu spüren. "Wenn es mir gerade jetzt schlecht geht, heißt das nicht, dass es in zwei Wochen auch noch so ist."