Impfstoffe: 30 Jahre Entwicklung vor Covid-19-Vakzine
Binnen weniger Monate konnten Biotechnologie-Unternehmen wie Moderna (USA) und BioNTech (Deutschland) bis knapp vor die Zulassungsanträge für Covid-19-Vakzine gelangen. Doch die dahinter steckende Forschungsarbeit für solche mRNA-Impfstoffe dauerte gut 30 Jahre und sollte jahrzehntelang ganz anderen Zielen als antiviralen Impfstoffen dienen.
In der dritten Novemberwoche könnte es laut BioNTech/Pfizer bereits mit dem Zulassungsantrag ernst werden. Mittlerweile existieren schon Fotos der "Freezer Farm", einer Halle mit Tiefkühlschränken (minus 80 Grad) des US-Konzerns in der kleinen Stadt Kalamazoo (US-Bundesstaat Michigan), wo die BioNTech-Vakzine gelagert werden soll. Das verträumte Kalamazoo war ehemals Hauptsitz des Pharmakonzerns Upjohn, längst in einem der vielen internationalen Pharma-Merger verschwunden.
Der Pharma-Informationsdienst STAT und der "Boston Globe" haben mit diesem Hintergrund die verworrene Geschichte von mRNA-Impfstoffen aufgezeichnet. Das Prinzip: Man bringt die direkte Bauanleitung (synthetisch hergestellte RNA) für immunogen wirksame Proteine per Impfung in Zellen. Diese produzieren die Proteine und rufen eine Abwehrreaktion hervor.
Eine Absage nach der andere
Eine der ersten, die sich mit der Technik beschäftigte, war die ursprünglich aus Ungarn stammende Katalin Kariko an der Universität von Pennsylvania, nunmehr Senior Vice President von BioNTech (Mainz). Sie wollte mRNA als Therapieform entwickeln: Durch das Einbringen von mRNA in die Zellen von Patienten sollten diese beispielsweise krankheitsbedingt mangelnde Enzyme, Wachstumsfaktoren zur Reparatur von geschädigtem Gewebe oder eben Antigene zum Auslösen von Immunreaktionen zu produzieren beginnen.
Die Wissenschafterin holte sich bei ihren Ansuchen um Forschungsgelder eine Absage nach der anderen. 1990 hatten zwar Wissenschafter der Universität Wisconsin erstmals an Labormäusen die prinzipielle Möglichkeit einer mRNA-Therapie beweisen können, doch die grundsätzlichen Probleme blieben: mRNA ist jene Abschrift von DNA-Abschnitten, die in den Ribosomen der Zellen als Anleitung für den Zusammenbau von Proteinen dient. Synthetisch hergestellte RNA ist aber "fremd". Im Falle des Einbringens in einen Organismus erkennt das Immunsystem praktisch sofort diese Erbsubstanz-Bestandteile und beseitigt sie. Das Abwehrsystem ist darauf trainiert, "fremde" Erbsubstanz zu "riechen" und zu beseitigen. Darauf basiert die Abwehr von Krankheitserregern.
Kariko und ihr Immunologie-Kollege Drew Weissman (Boston University) entdeckten schließlich einen Ausweg: synthetische mRNA, bei der einer der vier Bausteine (normalerweise Adenin, Cytosin, Guanin und Uracil) durch ein Pseudouridin ersetzt wurde. Das führte zu einer stark verminderten Immunantwort auf die "fremde" mRNA. Weissman und Co-Autoren berichteten darüber beispielsweise auch im Journal of Experimental Medicine (Mai 2018).
Stabilität als größtes Problem
Die größte Hürde für die Anwendung der mRNA-Technologie ist aber die mangelnde Stabilität der RNA-Teile in den Zellen selbst. Im Zuge der Produktion von Proteinen soll mRNA den Ribosomen die Anleitung für den Bau von Proteinen liefern - doch naturgemäß immer nur für einen bestimmten Zeitraum. Nuclease-Enzyme bauen die RNA deshalb wieder ab, was die Wirksamkeit einer solchen Therapie oder Impfung unmöglich machen oder drastisch reduzieren kann. Die Halbwertszeit von mRNA in Zellen kann Minuten, aber auch nur wenige Stunden betragen.
Jahrelange Forschung hat hier die entsprechende Fortschritte geliefert. Der aus Österreich stammende Co-Gründer von BioNTech, Christoph Huber, erklärte vor kurzem bei den Praevenire-Gesundheitstagen in Seitenstetten in Niederösterreich, dass man es geschafft habe, mRNA eine Stabilität von bis zu zwei Wochen zu geben. Dahinter stecken unzählige Modifikations-Experimente an der mRNA. Auch für die prophylaktische Covid-19-Vakzine besteht sie am Beginn aus einer "Kappe", dann folgt ein nicht für Protein kodierender Abschnitt. Schließlich ist die Bauanleitung für das SARS-CoV-2-Spike-Protein angehängt. Es folgt wieder eine nicht kodierende Region und schließlich ein "Schwanz" als Abschluss.
"Synthetische mRNA hat sich zu einem wirksamen Werkzeug für den Transfer von genetischer Information entwickelt. Untersucht wird sie für eine ganze Reihe von therapeutischen Anwendungen. Viele dieser Anwendungen benötigen aber eine verlängertes Vorhandensein von mRNA in den Zellen, um die Bioverfügbarkeit des kodierten Proteins zu verbessern", schrieb Ugur Sahin, Co-Gründer von BioNTech und mit seiner Frau Özlem Türeci nunmehr gefeierter SARS-CoV-2-Impfstoffentwickler, in Molecular Therapy (April 2019).
In der Publikation stellte Sahin dar, wie man durch Modifikation synthetischer mRNA an der zweiten nicht kodierenden Region die Produktion der gewünschten Proteine durch die Zellen - eben nach Bauanleitung durch die künstlich zugeführte mRNA - verbessern kann. Doch auch Modifikationen an der "Kappe" und der ersten nicht kodierenden Region der mRNA sind für das Funktionieren des Prinzips entscheidend.
Die Bauanleitung für die Protein-Produktion soll eben so stabil sein, dass sie wieder und wieder verwendet wird. Das bringt eine verbesserte Expression der gewünschen Eiweiße, im Fall der Vakzine eben jener SARS-CoV-2-Spike-Antigene, welche die schützende Immunantwort auf Trab bringen sollen.
Was schließlich ebenfalls wesentlich ist: Sowohl Moderna als auch BioNTech setzen bei ihren Vakzinen auf eine Verpackung der mRNA in Fettkügelchen (Liposome), die auch zu einer vermehrten Aufnahme durch dendritische (Antigen-präsentierende) Zellen nach der Impfung führen soll. Das verstärkt den immunologischen Effekt. BioNTech verlässt sich hier auf die Technologie des Klosterneuburger Unternehmens Polymun.
Therapeutische Krebsvakzine
Dabei sind die SARS-CoV-2-Impfstoffe, zumindest was BioNTech betrifft, gar nicht das primäre Ziel der Forschungsarbeiten gewesen. Das Unternehmen entwickelte die Technologie-Plattform mit mehreren Lizenzübernahmen zum Beispiel für therapeutische Krebsvakzine. Die Wissenschafter erhoffen sich einen Durchbruch. Das deutsche Unternehmen hat hier bereits Daten aus klinischen Studien vorzuweisen:
- Bis zur Entwicklung schneller und billiger Technologien zur Gensequenzierung schlicht utopisch war ein Projekt, über welches Sahin, Türeci, Huber und Co-Autoren 2017 in "Nature" berichteten: Bei knapp 20 Melanom-Patienten wurden mittels Next-Generation-Sequencing individuell potenziell immunogene Neo-Antigene identifiziert. Die mRNA für diese Proteine wurde als Impfstoff formuliert. Jeder Patienten erhielt "seinen" von Tumorgewebe abgeleiteten Mix für zehn dieser Antigene acht Mal injiziert. Bei allen Patienten kam es zu einer Immunantwort, die Entwicklung einer weiteren Metastasierung der Melanomerkrankung wurde signifikant gebremst.
- Ebenfalls bereits an Melanompatienten untersucht wurde von BioNTech eine "fixe" Krebsvakzin-Kombination mit einer mRNA mit vier Antigen-Bauanleitungen, darunter das beim schwarzen Hautkrebs bekannte MAGE-A3-Antigen. "Bei der Hälfte der Patienten geht der Tumor zurück", erklärte dazu Christoph Huber. Die erste Zwischenanalyse dieser Untersuchung ist Ende Juli dieses Jahres in "Nature" erschienen.
In beiden Fällen handelt sich allerdings noch um frühe Studien. Die Wirksamkeit und die Sicherheit müssten bis zu einer eventuellen Zulassung durch die Arzneimittelbehörden noch in viel größeren Untersuchungen dokumentiert werden. Die Entwicklung der Krebsvakzine - laut Onkologen könnten sie eine gute Ergänzung zu der modernen Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren sein - ist allerdings ein Langzeitprojekt. Die Feuerprobe für das Funktionieren der dahinter stehenden Technologie, eben der mRNA-Plattformen, findet derzeit mit den SARS-CoV-2-Vakzinen statt.