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"Die Art der Geburt bestimmt unsere späteren Beziehungen"

Es sind ungewöhnliche Worte aus dem Mund einer Geburtshelferin, die bereits Tausende Frauen bei ihrer Geburt begleitet hat: „In unserer Gesellschaft herrscht so etwas wie eine Geburtsvergessenheit“, sagt Primaria Univ.-Prof. Barbara Maier, seit August Leiterin der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe im zweitgrößten Spital Wiens, dem Wilhelminenspital. „Geburt ist für viele nur mehr eine Sache unter vielen anderen im Leben und nichts Besonderes, nichts Herausragendes mehr. Wir handeln sie oft sehr schnell und technisch ab.

Denn während es auf der einen Seite eine Renaissance der Hebammengeburt gibt, herrscht andererseits zunehmend die Haltung, Geburt als einen völlig plan- und kalkulierbaren Akt zu sehen: Man geht ins Spital, lässt den Kaiserschnitt machen und die Sache ist erledigt.“ Nichts dürfe dabei passieren – „aber vor lauter Risikovermeidung schaffen wir neue Risiken“. Es sei der Blick dafür verloren gegangen, was Geburtlichkeit – „Natalität, wie es die Philosophin Hannah Arendt formuliert hat“ – bedeute: „Wir werden hineingeboren in einen genetischen Pool, eine bestimmte Gefühls- und Erwartungswelt, in eine bestimmte Gesellschaft.

Ganz wesentlich aber ist: Wir werden in Beziehungen hineingeboren und in diese verstrickt – ein Leben lang.“ Dabei spiele die Geburt eine entscheidende Rolle: „Die Art und Weise, wie wir in diese Bindungs- und Beziehungskultur hineingeboren werden, wird in unserem ganzen Leben auch einen Einfluss darauf haben, wie wir Bindungen und Beziehungen gestalten.“ Natürlich gebe es da auch viele andere Faktoren und Einflüsse. „Aber dennoch: Die Geburt bestimmt unsere späteren Beziehungen. Aus diesem Grund brauchen Frauen gut ausgebildete Geburtshelfer, die sie während der Schwangerschaft gut vorbereiten, und nicht nur Geburtschirurgen“, betont Maier.

Und vielfach werde auch übersehen: „Die Einheit des vorgeburtlichen Lebens mit dem Säuglingsalter wird über die mütterliche Bindung hergestellt. Doch all diese nachhaltigen, oft sehr langfristigen Auswirkungen werden zu wenig berücksichtigt. Wie die erste Bindung zwischen Mutter und Kind aufgebaut wird, beeinflusst nicht nur das ganze Leben der beiden – ein gutes Bonding, also das gelungene Herstellen eines Mutter-Kind-Kontaktes – hat letztlich auch einen dauerhaften Einfluss auf das Zusammenleben in einer Gesellschaft.“

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KURIER: Können Sie – nach Tausenden Frauen, die sie seit 1989 begleitet haben – über eine Geburt noch staunen?Barbara Maier: Wenn ich in der Nacht zu einem Notfall gerufen werde, habe ich zu viel Adrenalin in mir, um staunen zu können. Aber wenn ich eine Frau die Schwangerschaft hindurch betreut habe, erfahren habe, wie lange sie sich schon ein Kind gewünscht hat, wie sehr sie sich freut, was ihr Sorgen macht – ja, dann staune ich bei der Geburt und bin auch sehr berührt.

Sie sprechen von einer "Geburtsvergessenheit" in unserer Gesellschaft.

Wir betonen heute so sehr die "Hardware": Da gibt es den Hype um die Reproduktionsmedizin, also die besten technischen Verfahren für eine künstliche Befruchtung. Danach dominiert vielfach die Pränataldiagnostik: Wie sehen die Gene aus, besteht ein Risiko für eine Erbkrankheit? Und die Geburt selbst – die ist dann die Sectio, ein Schnitt und vorbei. Aber schauen wir uns als Geburtshelfer auch an, wie die Frau die Schwangerschaft erlebt? Welchen Lebensrucksack sie mitbringt? Lebt sie in einer stabilen Beziehung? Was macht ihr Angst? Eine achtsame und feinfühlige Geburtshilfe muss sich auch damit auseinandersetzen. Ich habe hier sicher keine falsche Geburtsromantik und bin sehr froh über alle technischen Möglichkeiten, die ich im Ernstfall habe. Aber das Technische ist halt immer nur eine Seite.

Welchen Einfluss hat die Geburt auf die Mutter-Kind-Bindung?

Wir wissen heute, dass auch das Kind seine Geburt unbewusst erlebt und dieses Erleben prägend für sein späteres Lebens sein kann. Der Geburtsmodus beeinflusst wahrscheinlich auch die spätere Anpassung des Kindes an verschiedene Situationen. Mütter, die spontan entbunden haben, tun sich sehr viel leichter beim Bonding, beim ersten Beziehungsaufbau: Eine natürliche Geburt kann zwar extrem anstrengend sein, aber in der Regel sind die Frauen trotzdem fitter als nach einer Operation wie einem Kaiserschnitt. Das Bonding mit dem Kind und das Stillen sind viel einfacher. Natürlich bemühen wir uns auch nach einem Kaiserschnitt um einen intensiven Mutter-Kind-Kontakt, um ein gutes Sectio-Bonding. Aber es ist schwieriger – und die Atmosphäre im Operationssaal ist steriler. Auch die Zahl der Frauen, die nach einem Kaiserschnitt stillen, ist geringer als nach einer Spontangeburt.

Werden heute Risiken einer natürlichen Geburt über-, die eines Kaiserschnitts hingegen unterschätzt?

Es fehlt die ganzheitliche, langfristige Sicht: Besonders bei Kindern nach einem geplanten, nicht medizinisch notwendigen Kaiserschnitt gibt es eine erhöhte Rate von Autoimmunerkrankungen, etwa Asthma oder Allergien. Auf solche Erkenntnisse muss in der Aufklärung von Paaren mehr hingewiesen werden. Hier muss ich, was die Entscheidung für einen Kaiserschnitt betrifft, auch ein wenig Kritik an uns Geburtshelfern üben.

Inwiefern?

Wir haben teilweise die Tendenz, mit der Entscheidung für Kaiserschnitte zwar die Risiken einer natürlichen Geburt zu vermeiden, aber dafür neues, chirurgisches Risikopotenzial zu schaffen – und das sage ich als Ärztin, die viel operiert. Bei voroperierten Frauen, wie dies ja auch nach Kaiserschnitten der Fall ist, ist – alleine durch das Narbengewebe – alles viel komplizierter, sowohl bei weiteren Geburten wie ganz allgemein bei gynäkologischen Operationen. Bei einer weiteren Schwangerschaft steigt etwa das Risiko, dass die Plazenta in die Gebärmutterwand einwächst.

Sie meinen, oft würden erst die Ärzte den Wunsch nach einem Kaiserschnitt wecken?

Nur rund 1,5 Prozent der Frauen wünschen sich einen Kaiserschnitt. Die Sectio-Rate beträgt aber mittlerweile 30 Prozent. Die Hälfte davon wird aus medizinischen Notwendigkeiten durchgeführt. Aber es gibt Privatkliniken, da ist die Kaiserschnittrate höher als in großen Zentren, die auf Risikogeburten spezialisiert sind. Laut einer Studie von Univ.-Prof. Beate Wimmer-Puchinger würden 84 Prozent der Mütter, die vaginal entbunden haben, der besten Freundin diese Geburtsform empfehlen. Bei Müttern nach Kaiserschnitt täte dies nur jede vierte.

Liegt es nicht teilweise auch an der Angst der Geburtshelfer, dass sie sich in Zweifelsfällen eher für einen Kaiserschnitt entscheiden?

Ganz sicher, die Erwartungshaltung unserer Gesellschaft ist: Es muss alles perfekt sein – und wenn es das nicht ist, muss ein Schuldiger gefunden werden. Ich war in der Vorwoche auf einem Geburtshilfe-Kongress in Kanada: Die Berufsgruppe der in der Geburtshilfe tätige Gynäkologen bekommt dort genau so viele Klagen von Patientinnen wie alle anderen ärztlichen Berufsgruppen zusammen. Aber erstens gibt es auch in der Geburtshilfe schicksalshafte Verläufe, an denen niemand etwas ändern kann. Und auch Geburtshelfer sind Menschen. Diese sind von dramatischen Geburtsereignissen auch selbst sehr betroffen. Klagen und Gerichtsverfahren führen dann zu einer sekundären Traumatisierung, zu Unsicherheit und zu Defensivmedizin, die zu viel eingreift und operiert. Hier hängt es aber auch stark an der Ausbildung: Wer unsicher ist, löst im Zweifel alles mit Kaiserschnitt. Wir bieten im Wilhelminenspital unter bestimmen Voraussetzungen auch bei einer Beckenendlage (Steißlage) eine natürliche Geburt an. Aber das muss man unter Anleitung trainieren. Und dazu muss ich, wenn notwendig, auch am Sonntag um 3 Uhr in der Früh ins Spital kommen. Das ist für mich ganzheitliche Geburtshilfe im Sinne der Frauen und ihrer Kinder.


Zur Person:

Die Salzburgerin Barbara Maier erwarb 1981 ihr erstes Doktorat in Philosophie, 1986 jenes in Medizin. Darüber hinaus ist sie auch Psychotherapeutin (Methode Psychodrama). Sie ist Universitätsprofessorin an der MedUni Wien, Mitglied des Obersten Sanitätsrates und seit August 2015 im Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) Vorständin der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie des Wiener Wilhelminenspitals.