Wissen/Gesundheit

Kann dieses 15-jährige Mädchen zur Mörderin werden?

Fragte man Katrin Mayer* vor einem Jahr nach ihren Zukunftsplänen, dann schoss es enthusiastisch aus der 14-jährigen Gymnasiastin heraus: "Medizin studieren und Ärztin werden!" Daran gab es nichts zu rütteln. 

Ein Jahr später sitzt sie in vorläufiger Anhaltung auf der forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Vom Medizinstudium sprach sie schon lange nicht mehr, umso öfter von Suizid. Am 1. Februar wird sie sich am Landesgericht Korneuburg für eine Tat verantworten müssen, die vor einem Jahr noch völlig undenkbar gewesen wäre. So vieles war undenkbar. 

Geistig abnorme Rechtsbrecherin?

Katrin Mayer wird von ihrem Umfeld als "ganz normales Mädchen" beschrieben. Zumindest bis zu "den Vorfällen". In der Volksschule lernte sie Gitarre, sie traf sich gerne mit Freunden und verbrachte viel Zeit mit ihrem Mischlingshund. Die Eltern trennten sich früh, sie wuchs in Niederösterreich bei ihrer Mutter auf, die Alleinerziehende ist. Zu den Großeltern hatte sie immer sehr engen Kontakt, sie sei ein richtiges "Opa-Kind" gewesen, heißt es. Auch der Schwester der Mutter stand sie sehr nahe.

Im Alter von 12 Jahren hätte sie eine leichte depressive Phase gehabt, die allerdings als frühpubertäre Krise gesehen wurde, da es ihr rasch wieder besser ging. "Man kann von einer sehr sorgsamen, liebevollen und intakten Familie sprechen. Das ist der große Unterschied zu vielen anderen unserer Klienten und Klientinnen", sagt Raoul Warnung, der Katrin Mayers Fall betreut. "Ihre Mutter hat sich hilfesuchend an uns gewandt."

Warnung ist Obmann des Vereins RGM, diese Abkürzung steht für: Recht und Gerechtigkeit im Maßnahmenvollzug. Warnung und sein Team unterstützen Betroffene rechtlich und sozial. "Im schlimmsten Fall droht dem Mädchen die Inhaftierung in den Maßnahmenvollzug auf unbestimmte Zeit, also in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Das müssen wir verhindern."

Nicht mehr schlafen

Anfang des Jahres 2020 veränderte sich Katrin Mayer. Das Mädchen wurde innerlich unruhig, schließlich konnte sie kaum noch schlafen. Im März sah Brigitte Mayer* die Wunden an den Armen ihrer Tochter. Ritzverletzungen, die sie sich selbst zugefügt hatte.

Therapien wurden organisiert. Aufgrund des Lockdowns waren diese nur im Distance-Modus möglich, via Skype. Auf Anraten einer Ärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Tulln (KJPP Tulln) begann Katrin Mayer zusätzlich mit der Einnahme von Fluoxetin, einem Antidepressivum.

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Doch ihr Zustand verbesserte sich nicht, ganz im Gegenteil. Sie ließ sich immer mehr gehen, bis sie ihre Körperpflege komplett vernachlässigte. Als das Mädchen ihrer Therapeutin gegenüber von Suizid sprach, wurde sie Ende April stationär aufgenommen.

Sie bekam zusätzlich Seroquel verschrieben, ein starkes Medikament mit antipsychotischer Wirkung. Nach drei Tagen wurde sie wieder entlassen. Katrin Mayer versprach Besserung und regelmäßiger zu essen. Zwei Tage später nahm sie eine Überdosis der Tabletten ein, sie wollte nicht mehr Leben hatte sie ihrer Mutter gesagt.

Neun lange Wochen

Katrin Mayer wurde daraufhin erneut auf der KJPP Tulln stationär aufgenommen. Neun Wochen blieb sie dort. In dieser Zeit folgten noch weitere Suizidversuche, einmal lief sie davon, um sich auf Eisenbahnschienen zu legen, ein anderes Mal trank sie ein Reinigungsmittel oder verschluckte den Draht einer FFP2-Maske. "Es blieb zum Glück bei Versuchen", sagt die Mutter, die sofort in einen Heulkrampf verfällt, wenn sie sich heute daran zurückerinnert.   

Brigitte Mayer war völlig verzweifelt, niemand konnte ihr sagen, was mit ihrer Tochter passiert war. Sie stützte sich auf die Hoffnung, dass eine ambulant weitergeführte Therapie helfen würde, an den Wochenenden sollte Katrin Mayer zu den Großeltern. Wieder etwas Normalität. Das Ziel war es, in naher Zukunft einen geeigneten Platz in einer Wohngemeinschaft zu finden, wo das Mädchen betreut und therapiert werden sollte. Bis dahin würden die Ärzte und Ärztinnen der KJPP Tulln sie weiter behandeln. In einem Gutachten aus dieser Zeit steht:

“Patientin ist wach, allseits orientiert, Auffassung unauffällig, Patientin spricht leise, wenig Modulation. Stimmungslage depressiv, Antrieb reduziert, Schlaf unter Medikation gut, akute Suizidalität, manifeste Selbstmordgedanken. Zusammenfassend besteht daher bei der Untersuchten zum Untersuchungszeitpunkt aus gutachterlicher Sicht eine ernstliche und erhebliche Gefährdung für das eigene Leben und die eigene Gesundheit, jedoch keine für das Leben und die Gesundheit Anderer." 

Doch das sollte sich ändern. Am 8. Juli 2020 fand ein Gespräch mit der Mutter und den Großeltern statt, das anders als geplant ablief. Katrin Mayers behandelnde Ärztin der KJPP Tulln erklärte, dass zur Selbstgefährdung nun doch auch Fremdgefährdung hinzugekommen sei. Die Polizei wurde verständigt. "Katrin hatte sich mit dieser Ärztin besonders gut verstanden, viel zu gut", sagt Brigitte Mayer heute. Die zarte, groß gewachsene Frau wirkt müde, abgekämpft und traurig.

Katrin Mayer und diese Ärztin hätten ein besonders nahes Verhältnis entwickelt. Im Akt steht, dass das Mädchen "Verschmelzungsfantasien" mit der Frau entwickelt hätte, die ungesunde und gefährliche Ausmaße annahmen. Der Mutter wird erzählt, dass Katrin mit einem Unbekannten aus dem Internet geplant hätte, die Ärztin und sich selbst entführen und ermorden zu lassen. 

Brigitte Mayer war fassungslos und verstand die Welt nicht mehr. Aus den Akten: 

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"Das Mädchen hat in der Therapie von ihrem Plan erzählt, ohne daran zu denken, welche Konsequenzen dies haben könnte", sagt Warnung. Er wolle die gefährliche Drohung und Katrins Fantasien keineswegs herunterspielen, natürlich müsse man dem nachgehen. Schließlich würden die Ermittlungen hauptsächlich auf Katrin Mayers Schilderungen beruhen. 

Nachgewiesen werden konnte jedenfalls, dass der User namens 'Enslaver' existiert und ebenso, dass die beiden in Kontakt standen. Sie lernten einander über die Plattform Omegle kennen, auf der man sich bei einer Art Chatroulette mit komplett fremden Menschen unterhalten kann. Katrin Mayer sagt ihrer Anwältin heute, dass der Mann dann für die weitere Kommunikation auf Snapchat wechseln wollte und sie folglich um spezielle Fotos von sich bat.

Daraufhin hätte sie auch etwas von ihm fordern wollen und so wäre es zu "dem Plan" gekommen, wobei es davon laut Akten keine Chatverläufe oder dergleichen als Beweise gibt. Auch sonst steht über diesen User nicht viel in den Unterlagen. Katrin Mayer sagt heute, sie sei nie aktiv auf der Suche nach einem Auftragsmörder gewesen. 

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Es folgte umgehend eine Verlegung in die KJPP Hinterbrühl. Als Katrin Mayer kurz nach Ankunft von dort weglief, mit einer Glasscherbe in der Hand - man ging davon aus, sie wollte die besagte Ärztin damit ernsthaft verletzen oder eventuell sogar töten - folgte die Festnahme und Inhaftierung in die Justizanstalt Josefstadt.

Nach der Entlassung wurde sie wieder in der KJPP Hinterbrühl aufgenommen, dann wieder inhaftiert, dieses Mal in der Justizanstalt Korneuburg. Seit 20.11.2020 sitzt sie in der forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie am Neuromedcampus in Linz. In all dieser Zeit gab es immer wieder Medikamentenumstellungen, Suizidgedanken und erneute Selbstverletzungen. 

"In größter Not"

Am 1. Februar 2021 wird am Landesgericht Korneuburg über Katrin Mayers Zukunft entschieden. Fragt man Brigitte Mayer, wie sie empfindet, wenn sie in Richtung Verhandlung blickt, dann schießen ihr die Tränen in die Augen. Der Großvater sitzt neben ihr, er versucht, Fassung zu bewahren. "Bis heute wissen wir nicht, was mit Katrins Psyche passiert ist. Wo kommt das alles her? Welche konkrete Diagnose hat sie und wie kann es ihr wieder besser gehen?" Angesprochen auf die gefährliche Drohung der Ärztin gegenüber, sagt die Mutter: "Ich denke nicht, dass Katrin ihr ernsthaft wehtun wollte, ich denke, mein Kind war in größter Not." 

Für Warnung ist klar, dass eine Einweisung in den Maßnahmenvollzug nicht der richtige Weg sein kann. "Wenn man einmal gesehen hat, wie es dort drinnen zugeht, dann kann das keine einzige Sekunde lang eine Option sein. Dort wird ihr sicher nicht so geholfen, wie es notwendig wäre."

Katrin Mayer sei viel zu jung für so einen grausamen Ort. "Ich meine außerdem, dass sie in dem letzten Jahr viel zu oft herumgereicht wurde und zu viele unterschiedliche Medikamente bekommen hat. Sogar jede gesunde jugendliche Person braucht Stabilität. Derart junge Menschen haben im Maßnahmenvollzug nichts verloren." Katrin Mayer bräuchte, so Warnung, hochfrequente Psychotherapie in geschütztem Setting. "Aber es braucht kein 24-Stunden-Hochsicherheitsgefängnis.”

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Die zuständige Gutachterin, Gabriele Wörgötter, sieht das anders. In ihrer Einschätzung spricht sie von "wahngeleiteten Tathandlungen im Rahmen einer schizophrenen Grunderkrankung. Sie seien der pathologische Versuch, Defizite der inneren Struktur durch Verschmelzung mit einer anderen Person bis hin zum gemeinsamen Tod zu kompensieren."

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Da somit die Voraussetzungen nach § 21 Absatz 1 StGB vorliegen, werde die Betroffene in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen sein, heißt es im zugehörigen Einweisungsantrag.

 

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Reformbedarf im Maßnahmenvollzug

Mit Stand 1. Jänner 2021 waren 1.116 Personen österreichweit im Maßnahmenvollzug untergebracht, davon 7 Jugendliche. Dass der Maßnahmenvollzug schon seit vielen Jahren einer Reform bedarf, sei der Justizministerin bewusst. Die Verbesserung der Situation bei der strafrechtlichen Unterbringung von psychisch kranken Personen sei ihr zudem ein wichtiges und großes Anliegen, heißt es auf Anfrage. Es wird auf den Arbeitsbericht der "Arbeitsgruppe Maßnahmenvollzug (2015)" verwiesen: Es soll etwa unzulässig sein, dass Jugendliche eine bis zu lebenslange Einweisung erfahren können. "Langfristig bedarf es einer umfassenden Reform des Maßnahmenvollzugs. Dazu gehört auch der Bereich der Unterbringung von Jugendlichen. Derzeit wird zielstrebig daran gearbeitet und ein Gesamtentwurf soll im Frühjahr vorliegen", antwortet das Ministerium.

Tiefe Schuldgefühle

Brigitte Mayer möchte nicht einmal daran denken, dass ihrer Tochter eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher blüht. "Gestern habe ich mit Katrin telefoniert. Ich habe ihr dann auf ihren Wunsch Nutella mitgebracht für das Frühstück, sie hat sich sehr gefreut. Sie dürfte schon lange nicht mehr gefragt worden sein, wie es ihr geht. Es ist sehr schwer für mich, zuschauen zu müssen und nicht helfen zu können. Ich bin wirklich an dem Punkt, wo ich denke, vielleicht wäre es besser gewesen, nie mit ihr in die KJPP Tulln zu fahren. Vielleicht wäre das alles dann gar nicht passiert.” 

Warnung hofft "auf einen sinnvollen WG-Platz, wo ihr wirklich geholfen wird. Es gibt nicht viele, die infrage kommen, aber wir bereiten in diese Richtung alles vor, um bei der Verhandlung Alternativen zum Maßnahmenvollzug vorbringen zu können." Mit Jugendlichen wie Katrin Mayer sei unser System schlichtweg komplett überfordert.

Sie sei eine Art Systemsprengerin. "Was wir mittlerweile wissen: Das Mädchen hatte schon in der Vergangenheit dazu geneigt, sich Bezugspersonen zu suchen, auf die sie stark fixiert war. Das war die eigene Mutter, die Lehrerin und jetzt diese Ärztin. Warum es nun aber so ausgeartet ist, das muss in einer qualitätsvollen Therapie herausgefunden werden. Und ebenso, woher ihre Gewaltfantasien kommen."

Das Urteil

Das Wort der Gutachter und Gutachterinnen hat vor Gericht enormes Gewicht, bildet es doch fast immer die Grundlage für die Entscheidung. Und stets ist es ein Abwägen, eine Prognose über das Verhalten eines Menschen und seine künftige Gefährlichkeit für die Gesellschaft. Ein Gutachten ist nie eine Garantie - weder in die eine noch in die andere Richtung. Kann dieses 15-jährige Mädchen zur Mörderin werden?

Die Gutachterin Gabriele Wörgötter wird bei der Verhandlung am 1. Februar anwesend sein, um sich einen Eindruck über Katrin Mayers aktuellen Zustand zu verschaffen. Es wird wichtig sein, was die Ärzte und Ärztinnen des Neuromed-Campus Linz aussagen werden, wo sie die letzten zwei Monate gelebt hat. Es wird wichtig sein, wie Katrin auftritt. Es wird wichtig sein, was Katrin selbst sagen wird. Wörgötter könnte ihre Einschätzung ändern und einer Alternative zum Maßnahmenvollzug zustimmen. Ein Risiko bleibt aber immer. 

*Katrin Mayer wurde schließlich erstinstanzlich in den Maßnahmenvollzug eingewiesen. „Es steht außer Streit, dass niemand ein Interesse daran hat, ein knapp 16-jähriges Mädchen länger als erforderlich im Maßnahmenvollzug anzuhalten.“ - Aus der Einweisungsentscheidung einer 15-Jährigen. 

*Die Namen von Mutter und Tochter wurden geändert

Wer Suizid-Gedanken hat, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits das Sprechen über die Gedanken dabei, sie zumindest vorübergehend auszuräumen. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist, kann sich an die Telefonseelsorge wenden: Sie bietet schnelle erste Hilfe an und vermittelt Ärzte, Beratungsstellen oder Kliniken. Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Depressionen betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge in Österreich kostenlos unter der Rufnummer 142.

Das neue österreichische Suizidpräventionsportal www.suizid-praevention.gv.at bietet Informationen zu Hilfsangeboten für drei Zielgruppen: Personen mit Suizidgedanken, Personen, die sich diesbezüglich Sorgen um andere machen, und Personen, die nahestehende Menschen durch Suizid verloren haben. Das Portal ist Teil des österreichischen Suizidpräventionsprogramms SUPRA des Gesundheitsministeriums.