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Gelähmte machen einzelne Schritte: Was Experten sagen

Seit 13 Jahren sind die Beine der 32-jährigen Frau gelähmt. Auch mithilfe eines Stützgerüsts kann sie nicht aufrecht stehen. Dann beginnt sie ein spezielles Training: Eine Elektrodenkappe nimmt Signale von Nervenzellen auf und leitet sie an ein spezielles Computerprogramm weiter. Sie muss sich vorstellen, die Beine eines virtuellen Doppelgängers – eines Avatars –, den sie auf dem Bildschirm sieht, zu bewegen. So, als wären es ihre echten Beine. Mit fortschreitendem Training gelingt ihr das auch – und es gelingt ihr noch mehr: Nach 13 Monaten kann sie – in einer unterstützenden Aufhängungsvorrichtung – ein Bein anheben und eine Schrittbewegung nach vorne machen.

Acht Menschen mit einer Querschnittlähmung – vom Rumpf abwärts – nahmen an einer Studie des "Walk- Again-Projekts" teil - der KURIER berichtete. Die Ursachen ihrer Verletzung – etwa schwere Autounfälle – lagen zwischen fünf und 13 Jahren zurück. Einige konnten zu Studien-Ende mithilfe sogenannter "Exoskelette" – durch das Gehirn aktivierte Prothesen (siehe Bilderreihe) – einige Schritte zurücklegen und ein Gefühl für Bewegung wiedererlangen.

"Überraschend"

Geleitet wurde die Untersuchung von dem Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis von der Duke University, USA. "Bis jetzt hat niemand eine Verbesserung dieser Funktionen bei Patienten so viele Jahre nach dem Eintreten einer kompletten Querschnittlähmung gesehen", sagte Nicolelis. "Dieses überraschende Ergebnis hatte niemand von uns vorhergesehen." Die – noch unbestätigte – These der Forscher lautet: Dieses Training führt nicht nur im Gehirn, sondern auch im beschädigten Rückenmark zu Veränderungen. Denn bisher hielt man bei einer kompletten Querschnittlähmung – also einer vollständigen Durchtrennung der Nerven an einer bestimmten Stelle des Rückenmarks – einen derartigen Effekt für nicht möglich. Möglicherweise gebe es auch bei einer Diagnose "kompletter Querschnitt" immer noch einige intakte Nervenstränge.

Fazit: Bei vier der acht Patienten wurde die ursprüngliche Diagnose "vollständig gelähmt" auf "teilweise gelähmt" abgeändert. Alle Daten wurden auch in einer Fachzeitschrift (Scientific Reports) veröffentlicht.

Neuer Auftrieb

"Die Heilung einer kompletten Querschnittlähmung ist derzeit leider noch nicht in Sichtweite", sagt der Neurologe Univ.-Prof. Wolfgang Grisold, Vorstand der Abteilung für Neurologie im Sozialmedizinischen Zentrum Süd (Kaiser-Franz-Josef-Spital) in Wien "Aber das Gehirn hat eine große Neuroplastizität – also eine Veränderungs- und Lernfähigkeit. Und es besteht eine berechtigte Hoffnung, aufgrund dieser Fähigkeit für querschnittgelähmte Menschen in Zukunft gewisse Verbesserungen zu erzielen. Die Möglichkeit, Signale aus dem Gehirn durch Training mithilfe von Computerprogrammen in Bewegungen umzusetzen, gibt dieser Hoffnung einen neuen Auftrieb."

NIcolelis wurde übrigens bereits vor zwei Jahren auch international bekannt: Damals gab ein querschnittgelähmter Mann mit Hilfe eines von ihm entwickelten Exoskeletts den Anstoß für die Fußball-WM.

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