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Fettleibigkeit kann als Behinderung gelten

"15 Jahre lang hat ein stark übergewichtiger Tagesvater für eine dänische Gemeinde gearbeitet. Nie wog er weniger als 160 Kilogramm. 2010 wurde er gekündigt – offiziell mit der Begründung, der Bedarf an Kinderbetreuung gehe zurück. Allerdings soll die Adipositas beim Kündigungsgespräch angesprochen worden sein. Der Tagesvater sah sich aufgrund seines Gewichts diskriminiert und forderte Schadenersatz.

Urteil

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jetzt klar gestellt: Übergewicht kann unter bestimmten Umständen eine Behinderung sein – und behinderte Menschen haben in der EU ein Recht darauf, vor Diskriminierung geschützt zu werden. Arbeitgeber müssen Vorkehrungen treffen, um behinderten Menschen die Teilnahme am Berufsleben zu ermöglichen.

„Dieses Urteil stellt eindeutig klar, dass ein massives Übergewicht als Behinderung zu sehen ist – und eine Kündigung aus diesem Grund damit rechtlich anfechtbar ist, weil es sich um eine Diskriminierung handelt“, sagt die Arbeitsrechtsexpertin Irene Holzbauer von der Arbeiterkammer (AK) Wien. „Generell werde heute Krankheiten, die länger als sechs Monate dauern, als Behinderung gesehen.“ Damit sei – zumindest theoretisch – ein erhöhter Kündigungsschutz gegeben. „Erfolgt eine Kündigung, die behinderte Menschen diskriminiert, kann der Betroffene innerhalb von 14 Tagen ein Schlichtungsverfahren einleiten. Das gilt jetzt auch eindeutig für adipöse Menschen.“

„Eine Katastrophe“

„Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Adipositas als Krankheit eingestuft“, sagt der Ernährungsmediziner und Adipositas-Experte Univ.-Prof. Kurt Widhalm, Präsident des Österreichischen Instituts für Ernährungsmedizin. „Oft herrscht das Vorurteil, die Betroffenen seien selber schuld an ihrer Situation. Aber das sind sie nicht. Es sind kranke Menschen, die Hilfe und Therapien benötigen.“

Höhergradig übergewichtige Jugendliche würden oft überhaupt keinen Job bekommen, sagt Widhalm. „Bei Bewerbungen um eine Lehrstelle werden sie oft mit fadenscheinigen Argumenten abgewiesen. Das ist eine Katastrophe.“

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gebe es in Österreich kaum langfristige und wissenschaftlich fundierte Präventionsprogramme (z. B. Schulungen in gesunder Ernährung und Anleitung zu vermehrter körperlicher Aktivität): „In solche Programme muss das gesamte Umfeld – Eltern, Lehrer etc. – einbezogen werden.“

Projekt EDDY

Widhalm initiierte das Präventionsprojekt EDDY, das seit mehr als einem Jahr an vier Wiener Schulen läuft und von der Stadt Wien und dem Herzfonds unterstützt wird. „Alarmierend ist, dass wir dabei auf drei Schüler im Alter von zwölf Jahren gestoßen sind, von denen jeder mehr als 100 Kilogramm gewogen hatte – ohne dass vor uns jemand darauf reagiert hätte.“ Durch Schulungen in gesunder Ernährung und Anleitung zu vermehrter körperlicher Aktivität konnten das Ernährungsverhalten sowie auch die körperliche Fitness der Kinder signifikant verbessert werden.

Bei Erwachsenen würden Ernährungs- und Bewegungsprogramme alleine aber in vielen Fällen nicht mehr ausreichen: Dann bleibe als letzte Möglichkeit nur mehr eine Operation zur Magenverkleinerung.

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Die Weltgesundheitsorganisation WHO betrachtet Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) als weltweite Epidemie. 1,4 Milliarden Erwachsene gelten als übergewichtig, ein Drittel davon als fettleibig (adipös). Jährlich sterben 2,8 Millionen Menschen an den Folgen.

In den EU-Staaten hat sich die Zahl der Betroffenen seit den 1980er-Jahren verdreifacht Tendenz steigend. Der Anteil der krankhaft Übergewichtigen liegt einer OECD-Studie zufolge in den USA bei 34 Prozent aller Erwachsenen, in Großbritannien bei 23, in Deutschland bei 15, in Österreich bei zwölf, in der Schweiz bei acht und in Japan bei vier Prozent.

Als Maßstab zur Einstufung dient der Body-Mass-Index (BMI), mit dem das Verhältnis von Körpergröße und Gewicht erfasst wird. Laut WHO gelten Menschen mit einem BMI von 25 bis 30 als übergewichtig und mit einem BMI von mehr als 30 als fettleibig. Zu den medizinischen Folgen gehören Diabetes, Bluthochdruck, schwere Herz-Kreislauferkrankungen sowie Gelenkprobleme. Auch die Wahrscheinlichkeit, an bestimmten Krebsarten zu erkranken, steigt bei einem extrem hohen Körperfettanteil. Weil Betroffene gesellschaftlich oft ausgegrenzt werden, leiden sie zudem häufig an Depressionen und anderen psychischen Krankheiten.