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Kritik an Klassenmedizin: "Ohne Maßnahmen kippt das System"

Das öffentliche Gesundheitssystem reduziere sich zunehmend auf die Grundversorgung. Ökonomische Vorgaben halten Ärzte von ihren eigentlichen Aufgaben ab – Patienten zu heilen. Dazu greife in der Gesellschaft selbst eine Entsolidarisierung um sich: Der Wiener Lungenfacharzt Gernot Rainer erstellt in seinem jetzt erschienenen Buch eine schonungslose Analyse und plädiert im KURIER-Gespräch für einen Kurswechsel.

KURIER: Sie sprechen von einer "Klassenmedizin". Was wurde denn aus der viel zitierten Zwei-Klassen-Medizin?

Gernot Rainer: Ich glaube, dass zwei Klassen in Zukunft nicht ausreichen. Momentan beobachten wir einen steigenden Trend, dass die öffentlichen Gesundheitsbetreiber Reduktionen forcieren, die auf eine Art Basisversorgung hinauslaufen. Das wäre dann die eine Klasse, und abgestuft gibt es unterschiedliche Modelle, die zu zahlen sind. Ein Beispiel so einer Zwischenklasse zwischen den Kassenpatienten und jenen mit Zusatzversicherung, die es schon immer gegeben hat: Man bezahlt Geld für eine Jahresmitgliedschaft in einer Art Club-Verein und kann praktisch Wahlärzte zum Kassentarif aufsuchen. Es gibt nicht ganz die freie Arztwahl, die etwa eine Zusatzversicherung gewährleistet, sondern ist an die Ärzte in diesem "Club" gebunden. Man hat aber sehr wohl die Möglichkeit, diese in einem Wahlarzt-Setting wahrzunehmen.

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Was ein echtes Novum ist und gerade anläuft, ist, dass sich langsam auch die Akutmedizin, die immer in öffentlicher Hand war, beginnt, abzuspalten. Eine Wiener Privatklinik will erstmals eine Notaufnahme konzipieren, wo Zusatzversicherte einer Versicherung direkt andocken können. Das heißt, das ist eine komplette Umgehung der öffentlichen Notfallambulanzen.

Da könnte man ja auch sagen: Schön, damit wird die öffentliche Hand doch entlastet.

Das ist sehr provokant gesagt. Es setzt sich da eine bestimmte Geisteshaltung immer mehr durch, die zu einer zunehmenden Entsolidarisierung und zu einer Verschiebung in den selbstverantwortlichen Bereich führt. Zusehends sagt die Allgemeinheit: Warum soll ich für die Erkrankung dieses Einzelnen aufkommen? Das ist höchst unfair. Aber man kann sich nicht aus der Verantwortung nehmen und sagen: Das geht mich nichts an, der soll selber schauen, dass er behandelt wird.

Man muss ehrlich sagen, dass sich unser System fundamental von anderen, etwa dem amerikanischen, unterscheidet. Der Grundgedanke dort ist eine calvinistische Prägung – jeder ist seines Glückes Schmied und jeder ist für sich verantwortlich. Das heißt, jeder muss schauen, dass er sich selbst versichert. Wir haben da einen anderen – einen solidarischen – Zugang. Ein funktionierendes Gesundheitssystem ist einer der Eckpfeiler unseres Sozialstaats.

Wie könnte man das jetzige System ändern, verbessern?

Ich glaube, wir brauchen andere Zugänge. Unser Gesundheitssystem funktioniert immens kompliziert. Man muss sich auch mit trockener Materie beschäftigten und schauen, wer sind die einzelnen Akteure und wie ist das System aufgestellt. In Wirklichkeit haben wir ein Dreieck-Machtverhältnis aus Ländern, Krankenversicherungen und der Ärztekammer als weiteren Player.

Eines der Kernprobleme ist die duale Finanzierung. Wir haben das Problem, dass für die niedergelassenen Ärzte die Krankenkassen zuständig sind, die deren Honorare bezahlen. Für den sehr starken stationären Bereich zahlen die Länder und die Kassen schießen nur einen gedeckelten Betrag zu. Damit besteht aber ein wechselseitiges Interesse, dass Leistungen in den jeweils anderen Bereich verschoben werden.

Das ist für den Einzelnen schwer zu durchschauen.

Das stimmt. Ich bin seit 2004 Arzt in verschiedenen Spitälern gewesen und hatte bis auf meinen kleinen Arbeitsbereich wenig Ahnung über das Gesamtkonstrukt. Seit 2015 habe ich mit sehr vielen klugen Menschen geredet, von Gesundheitsökonomen bis zu Primarärzten. Ich habe keinen Einzigen getroffen, der diese duale Finanzierung für eine gute Idee hält. Das Skurrile ist: Wir haben sie trotzdem.

Sie fordern Vereinfachungen.

Ja. Wir haben 21 verschiedene Sozialversicherungen. Es ist vollkommen sinnentleert, so viele zu haben. Man muss auch das aktuelle Honorierungssystem für Ärzte hinterfragen. Was momentan honoriert wird, sind einzelne medizinische Leistungen, die abgerechnet werden. Was katastrophal unterhonoriert ist, ist das ärztliche Gespräch. In manchen Bundesländern wird das mit acht Euro honoriert. In diesem System ist es für den Arzt wirtschaftlich gescheiter, möglichst viele apparative Untersuchungen zu machen.

Was wäre zu tun, um diesen Knoten zu lösen?

Letztendlich müsste es eine Bewegung in allen Blöcken geben. Es gibt Beispiele aus anderen Ländern. Im Kinzigtal, einer Region im Schwarzwald, versucht man eine bessere Vernetzung. Die haben eine elektronische Gesundheitsakte – aber auch einen Vertrauensarzt für jeden Patienten. Er fungiert als Lotse durch das System. Honoriert wird nicht nach Einzelrechnungen, sondern nach einer Pauschalabrechnung. Es gibt gesundheitsfördernde Maßnahmen wie ermäßigte Tarife in Fitnesscentern. Ich sage nicht, dass dies das einzig Richtige ist, aber es gibt immerhin Projekte. Unser System, wie es jetzt ist, wird aber ohne Maßnahmen kippen.

Zur Person:

Der Wiener Gernot Rainer, 38, ist Lungenfacharzt und Intensivmediziner. Er war für den Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) in mehreren Spitälern der Stadt tätig. Mit der Gründung einer neuen Gewerkschaft (Asklepios) kam es zur Trennung vom KAV, heute arbeitet Rainer als Wahlarzt.

Buchtipp

Kampf der Klassenmedizin, Brandstätter Verlag, 22,90 €.

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