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Demenz: Kommunikationsmethode reduziert Aggressionen und Stress

In die Welt der Demenz einsteigen, um Erkrankten auf derselben Ebene begegnen zu können.“ Das ist der Ansatz der US-Sozialarbeiterin Naomi Feil, Pionierin im Umgang mit demenzkranken Menschen: Weltweit arbeiten 30.000 Einrichtungen nach der von ihr entwickelten Methode der Validation. Auf Einladung des Wiener Roten Kreuzes hält Naomi Feil regelmäßig Seminare in Wien.

KURIER: Wie kam es dazu, dass Sie nach einer neuen Form im Umgang mit desorientierten Menschen gesucht haben?

Naomi Feil: 1963 arbeitete ich in Cleveland, Ohio, mit einer kleinen Gruppe von Menschen mit der Diagnose Demenz. Ein Mann, der viel fluchte und schimpfte, sagte immer wieder zu mir, der Leiter des Heimes hätte ihn kastriert – dieser Leiter war mein Vater. Ich bemühte mich fünf Jahre lang,den Mann davon zu überzeugen, dass das nicht stimmt, und ich versuchte auch, sein Verhalten zu ändern: Er könne nicht mehr an unserer Gruppe teilnehmen, wenn er nicht mit dem Fluchen aufhöre, sagte ich ihm mehrmals. Aber nichts half – obwohl er die Gruppe liebte. Nachdem mein Vater das Heim verlassen hatte, hörte sein Fluchen auf – aber er hörte auch auf zu reden und herumzugehen. Als er starb, war er bereits ein lebender Toter.

Was haben Sie daraus gelernt?

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Erst später erfuhr ich, dass ihn sein Vater in der Kindheit mit der Aussage, er sei kein gutes Kind, strafte. Sein eigener Vater hatte ihn kastriert – mit Worten. Mein Vater war im Heim für ihn ein ähnliches Symbol für Autorität wie in der Kindheit sein eigener Vater. Sehr häufig drücken desorientierte Menschen über Personen in ihrer gegenwärtigen Umgebung Gefühle aus, die sie früher gegenüber den eigentlichen Adressaten – etwa den Eltern – nie gezeigt hatten: Das betrifft Zorn und Ärger ebenso wie Liebe oder Zuneigung. Sie versuchen alte Konflikte zu lösen – das ist eine andere Art von Lebenskampf im Alter. Wenn in so einer Situation niemand diese Gefühle ernst nimmt, wenden sich diese Menschen mehr und mehr nach innen.

Also bringt es nichts, demente Menschen von der Wahrheit überzeugen zu wollen?

Wessen Wahrheit ist es? Der alte Mann wurde von seinem Vater auf gewisse Weise tatsächlich kastriert – er war sein Leben lang auf der Gefühlsebene impotent. Und wer bin ich, dass ich ihm sage, was wahr ist und was nicht? Wir müssen diese Gefühle aufgreifen und anerkennen. Eine Frau, deren Mutter lange verstorben ist, hat mir einmal gesagt: „Ich muss dringend meine Mutter sehen.“ Ich antwortete: „Ist etwas nicht in Ordnung?“ – „Ja, sie ist sehr krank“ – Die Frau machte die ganzen Gefühle der Sorge um die schwer kranke Mutter nochmals durch. Später sagte sie zu mir: „Meine Mutter ist nicht alleine, sie ist beim lieben Gott.“

Eine 100-Jährige sagte mir, sie sei so glücklich, weil sie gerade so ein schönes Gespräch mit ihrer Mutter und Tante hatte. Ich hatte nicht das Herz ihr zu sagen, dass beide schon lange tot sind. Wozu auch? Tief in ihrem Inneren kennen diese alten Menschen die Wahrheit. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass auch der Mann, der meinen Vater so schwer beschuldigte, wusste, dass der Vorwurf nicht stimmt. In ihrer Realität ist auch die Wahrheit eine andere – und wir müssen in ihre Realität kommen und dürfen nicht versuchen, sie in unsere Realität zu zwingen.

Kann man damit den Rückzug ins Innere stoppen?

Die vertrauensvolle Kommunikation ist entscheidend – das kann man lernen. Kommunikation bedeutet dabei nicht nur Sprache. Auch Umarmungen, sanfte Berührungen, Singen, Bewegungen – das alles schafft Sicherheit, reduziert Aggressionen und Stress. Davon profitieren auch die Pflegenden. Häufig können auch Medikamente wie etwa Beruhigungsmittel reduziert werden.

Woran mangelt es oft im Umgang mit dementen Menschen?

Wir behandeln alte Menschen oft wie Kinder, reduzieren sie auf die Krankheit. In der Validation hingegen sehen wir den ganzen Menschen, nicht nur sein Gehirn. Jemanden zu validieren bedeutet, seine Gefühle als wahr anzuerkennen. Ich urteile nicht – ich akzeptiere das, was die Menschen sagen. 1993 besuchte der ältere George Bush als US-Präsident im Wahlkampf ein Pflegeheim und fragte eine kleine alte Dame: „Wissen Sie, wer ich bin?“ – „Nein“, sagte sie, „aber gehen sie zur Rezeption, die werden es ihnen sagen.“ Diese Geschichte erzähle ich jenen Ärzten, die Alzheimer nur als Krankheit sehen und Medikamente als einzige Therapie. Wir müssen lernen, die Weisheit und Würde dieser Menschen zu achten.

Infos zu Naomi Feil und ihrer Methode:

Naomi Feil, 1932 in München geboren, wuchs im Montefiore-Altersheim in Cleveland, Ohio (USA), auf, das ihr Vater leitete. An der Columbia-University erwarb sie ein Master’s Degree in Sozialarbeit. Die Validationsmethode entwickelte sie zwischen 1963 und 1980. Die studierte Sozialarbeiterin hält regelmäßig Fortbildungskurse für ihre Methode auch in Österreich – etwa beim Roten Kreuz. Sie ist Trägerin des Großen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich.

Validation („für gültig erklären“) ist eine Kommunikationsmethode mit demenzkranken Menschen. Dabei geht es darum, alte Menschen zu akzeptieren, ohne sie zu beurteilen. Durch Einfühlung wird Vertrauen hergestellt, Angst reduziert.


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Ein verlorener Gesichtsausdruck ihrer damals 83-jährigen Mutter Alice war das erste Zeichen, dass etwas nicht mehr so ist wie früher. „Es fing mit Kleinigkeiten an: Sie wollte zum Beispiel Milch und Brot kaufen, und am Ende waren drei Kilo Brot im Haus, aber keine Milch“, erinnert sich ihre Tochter Brigitte D. „Meine Mutter war immer selbstständig, doch plötzlich hatte sie einfach den Überblick verloren. Sie wusste zunehmend nicht mehr, was als nächster Schritt zu tun ist – dass auf Aufstehen zum Beispiel Anziehen folgt.“

Brigitte D. musste „neu hinhören und hinschauen lernen“. Die Validationsmethode habe ihr dabei „sehr geholfen. Ich habe besser verstehen gelernt, was in diesem Gehirn vor sich geht – und ich habe gelernt, damit umzugehen.“ Wenn man dem Menschen auf gleicher Ebene begegne, merke man, dass „nicht nur ein Verlust an Denkvermögen da ist, sondern auch Neues dazu kommt“.

Gefühlswelt

Validation bedeutet, sich auf die Gefühlswelt der Klienten einzulassen“, sagt Barbara Pichler, Lehrgangsleiterin für Gerontologie beim Wiener Roten Kreuz. „Das Prinzip dahinter ist, demenzkranke Menschen nicht um jeden Preis in die Realität zurückzuholen. Es gehe nicht darum, Erkrankte durch Korrekturen an Tatsachen erinnern zu wollen, die sie nicht mehr behalten können. „Was wie eine wirre Aussage erscheint, mag nicht mehr in unserer Realität wurzeln, hat aber trotzdem eine Bedeutung, die es zu entschlüsseln gilt: Wer zum Beispiel nach seiner Mutter ruft, der sucht Sicherheit und Nähe“, betont die Rotkreuz-Expertin.

Das Ausbildungszentrum des Wiener Roten Kreuzes bietet für Angehörige Basis- und Aufbaukurse zur Validationsmethode nach Naomi Feil an. Diese Kurse dauern jeweils zwei Abende oder Vormittage (die nächsten Termine: 14.1. und 28.1., jeweils 9-12 Uhr; 13.3. und 20.3., jeweils 18–21 Uhr). Kostenbeitrag: 55 Euro pro Kurs. Überdies gibt es für Personen, die beruflich mit desorientierten alten Menschen arbeiten, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Infos unter www.wrk.at/abz oder der Nummer 01 79 580 6000