Bestseller-Autor Harari: Warum wir die falschen Dinge fürchten
Die Zahlen wären zwingend: Seit dem 11. September 2001 haben Terroristen in der Europäischen Union jedes Jahr etwa 50 Menschen getötet, in den USA etwa zehn, in China sieben und weltweit bis zu 25.000. „Warum“, fragt Yuval Noah Harari, „haben wir vor dem Terrorismus mehr Angst als vor Zucker oder Luftverschmutzung?“ An ersterem sterben weltweit 3,5 Millionen Menschen jährlich, an zweiterem gar sieben Millionen.
Nur eines der Rätsel, dem der Shootingstar unter den Sachbuch-Autoren in seinem neuen Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (CH Beck, 24,95 €, ab Dienstag im Handel, Bild unten) nachgeht.
Eine seiner Kernbotschaften: Wir machen uns wegen der falschen Dinge Sorgen. Oder wie er im britschen Guardian meint: „Wir sollten keine Angst vor Terrorismus haben. An terroristischen Angriffen sterben weitaus weniger Menschen als an kohlensäurehaltigen Getränken.“ Der Trick, um unseren Ängsten ein Ende zu setzen, sei, nicht aufzuhören, sich Sorgen zu machen. Es gehe aber darum zu wissen, um welche Dinge man sich Sorgen machen muss.
Während die bisherigen Bestseller des Historikers aus Israel Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011) und Homo Deus (2015) (siehe Geschichte unten) Vergangenheit und Zukunft behandelten, dreht sich sein neues Buch um die Gegenwart. Ansonsten sind alle klassischen Harari-Themen zu finden: Wie sollten Demokratien mit den Quantensprüngen in Biotechnologie und bei der künstlichen Intelligenz (KI) umgehen? Wie können wir den Besitz von Daten regeln, die Land und Maschinen als wichtigstes Gut in den Hintergrund drängen? Wie werden die Gesellschaften auf die KI und die mögliche Nutzlosigkeit der Arbeitnehmer reagieren? Wie soll Politik aussehen, da es viel schwieriger ist, gegen Irrelevanz zu kämpfen als gegen Ausbeutung? Was bedeutet der Aufstieg von Donald Trump? Soll Europa offenbleiben für Zuwanderer? Was tun gegen die Krise der liberalen Demokratie und den Klimawandel? Müssen wir einen weiteren Weltkrieg befürchten? Und was sind die besten Reaktionen auf Terrorismus und Fake-News?
Keine Anleitung
Wer jetzt meint, Harari gibt uns 21 Anleitungen, wie wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen können, wird enttäuscht. So gesehen ist der Titel des Buches ein Etikettenschwindel. Bill Gates etwa kommentiert das in der New York Times so: „... sein Titel ist ein Irrtum. Obwohl Sie einige konkrete Lektionen verstreut finden werden, widersetzt sich Harari meist praktischen Rezepten. Er ist mehr daran interessiert, die Bedingungen der Diskussion zu definieren und eine historische und philosophische Perspektive zu geben.“ Konkret – aber wohl bis auf weiteres Illusion – ist eigentlich nur sein Satz: „Die einzige wirkliche Lösung ist die Globalisierung der Politik“.
Nachschub? Panik!
Das liegt vielleicht auch an den Vorzeichen, unter denen die 21 Lektionen, die eigentlich 21 Kapitel heißen müssten, entstanden sind. In einem Interview in den USA, wo das Buch bereits seit einem Monat auf dem Markt ist, erzählt Harari: „Als ich Eine kurze Geschichte der Menschheit und Homo Deus schrieb, hatte ich keine Ahnung, dass sie beide zu weltweiten Bestsellern werden würden.“ Er sei völlig unvorbereitet gewesen, als seine Verlage Nachschub forderten. „Für ein paar Stunden war ich in Panik, ehe ich eine Inspiration hatte“.... „warum nicht einfach eine ganze Reihe von Artikeln, die ich für andere Publikationen geschrieben hatte, recyceln und versuchen, sie als meine Sichtweise auf die Gegenwart zu präsentieren.“ So ist eine lose Sammlung von Essays entstanden, die auf Artikel für die New York Times, Bloomberg, The Atlantic, The Guardian und andere aufbauen.
Zur Person: Yuval Noah Harari
Veganer aus Überzeugung, Forscher mit Hang zur Mystik, Weltstar unter den Historikern: 1976 in Haifa geboren, bekam Harari 2002 seinen Doktortitel von der Universität Oxford verliehen und lehrt heute an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Schwerpunkte sind Weltgeschichte, Mittelalterforschung und Militärgeschichte. Schon als Student suchte er nach Antworten auf die großen Fragen seines Lebens und der Menschheit. Weil er sie an der Universität nicht fand, besuchte er einen Meditationskurs. Eine Entscheidung, die sein Leben veränderte. „Ich habe in diesen zehn Tagen durch die bloße Beobachtung meiner Sinneseindrücke und Empfindungen mehr über mich und über Menschen im Allgemeinen gelernt als zuvor in meinem ganzen Leben.“
In den USA und England waren die Reaktionen auf 21 Lessons for the 21st Century zurückhaltend. Der Guardian schrieb gar: „Der beste Grund, dieses Buch nicht aus dem Fenster zu werfen, ist, dass Harari gelegentlich einen Absatz schreibt, der wirklich bewusstseinserweiternd ist.“
Beispiel gefällig? „Einzelne Menschen wissen erschreckend wenig über die Welt.“ Das belegt er mit einem Experiment, bei dem Menschen gebeten wurden, einzuschätzen, wie gut sie über einen gewöhnlichen Reißverschluss Bescheid wissen. Die meisten gaben vertrauensvoll zu Protokoll, sie würden dessen Funktionsweise ziemlich gut verstehen – schließlich verwendeten sie ihn ständig. Als man sie aber bat zu beschreiben, was im Inneren des Reißverschlusses passiert, hatten die meisten keine Ahnung. „Wir glauben, eine Menge zu wissen, auch wenn wir individuell sehr wenig wissen, denn wir behandeln das Wissen in den Köpfen anderer, als wäre es unser eigenes“, beschreibt Harari das Phänomen der „Wissensillusion“, das derzeit grassiert. Denn: „Je weiter die Geschichte voranschritt, desto weniger wussten einzelne Menschen.“
Die Folge: Heute vertrauen wir bei fast allem auf die Expertise von anderen.
Wie Menschen ticken
Am spannendsten ist das Buch also dort, wo sich Harari auf seine große Stärke konzentriert: aufzeigen, wie der Mensch tickt und was daraus resultiert. Zum Beispiel, wenn er erklärt, dass jedes Volk sich für den Nabel der Welt hält. „Die Russen denken, dass Russland im Mittelpunkt der Geschichte steht, die Chinesen denken das über China, und die Amerikaner denken das über Amerika. Solange deine grundlegende Weltanschauung ist, ,mein Volk ist das wichtigste in der Welt, und deshalb sind meine Interessen auch das Wichtigste’, wirst du mit anderen Menschen nicht gut zusammenarbeiten können.“ Der erste Schritt zu guter Zusammenarbeit sei diese grundlegende Demut: „Hey, wir sind nur ein kleines Volk und es gibt Hunderte wie uns auf der Welt. Wir sind nicht das Zentrum der Geschichte. Und wenn wir uns vor den Gefahren schützen wollen, die jetzt auftreten, müssen wir mit anderen zusammenarbeiten.“
Jetzt kann man sich natürlich darüber lustig machen, dass der Historiker viele seiner Erkenntnisse aus der Meditation geschöpft hat und sie als zentralen Lösungsansatz in seinem Buch propagiert.
Andererseits: Ein bisschen mehr Achtsamkeit würde uns allen nicht schaden. Oder wie es Harari selbst ausdrückt: „Wenn Sie also die Wahrheit über das Universum, über den Sinn des Lebens und über Ihre eigene Identität erfahren wollen, so beginnen Sie am besten damit, Leid wahrzunehmen und zu erkunden, was Leid wirklich ist.“
Epilog: Obama und Merkel sind seine Fans
Eigentlich klingt das, was Yuval Noah Harari passiert ist, wie ein Märchen: Ein unbekannter israelischer Wissenschaftler schreibt eine Geschichte der Menschheit – in Hebräisch. 2014 wird das Buch ins Englische übersetzt und verkauft sich mehr als eine Million Mal. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg nimmt es 2015 in seinen Buchclub auf. Ridley Scott will es in eine Fernsehserie verwandeln. Barack Obama sagt, dass es seinen Blick für die wirklich wichtigen Dinge geschärft hat, „die es uns ermöglicht haben, diese außergewöhnliche Zivilisation aufzubauen, die wir für selbstverständlich halten“. Dieses Buch heißt Eine kurze Geschichte der Menschheit und beleuchtet unseren Weg von der Entdeckung des Feuers bis zur Schaffung von Cyborgs.
Auch das Nachfolgebuch Homo Deus war ein globaler Bestseller und entwarf eine erschreckende Zukunftsvision. Mittlerweile sind Hararis Bücher in 50 Sprachen übersetzt, mehr als zwölf Millionen Exemplare wurden verkauft. Auch an die deutsche Kanzlerin. Im Jänner stellt sich Angela Merkel beim Wirtschaftsforum in Davos bei Harari vor: „Ich habe Ihre Bücher gelesen“.