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Wie Menschen gegen ihre Sucht ankämpfen

Bei dem einen beginnt’s mit dem Gewohnheitsachterl nach der Arbeit, die nächste braucht immer öfter eine Pille zum Runterkommen. Oder zum Schlafen. Und dort katapultiert sich ein Mensch am einarmigen Banditen aus der Realität. Die Grenzen zwischen Genuss und Abhängigkeit verschwimmen oft.

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Der ehemalige ORF-Journalist Lorenz Gallmetzer hat sich nicht nur selbstzu seiner Alkoholsucht bekannt, sondern während seines Therapieaufenthalts im Anton-Proksch-Institut in Wien-Kalksburg unterschiedlichste Sucht-Schicksale aufgezeichnet. In seinem Buch "Süchtig" erzählt er die Geschichten anderer Alkoholkranker ebenso wie jene des Spielsüchtigen oder der Medikamentenabhängigen. Ihre Gemeinsamkeit: Sie alle haben den Kampf gegen die Sucht aufgenommen und geben nicht auf. Der KURIER bringt aus dem Buch Auszüge zweier Suchtschicksale.

Alkohol und Spielsucht

H. J., 60 Jahre alt, hat seine Erbschaft in Millionenhöhe verspielt. Er war erst alkoholabhängig, schließlich landete er wegen seiner Spielsucht in Kalksburg.

"Eigentlich hat das schon in der Jugendzeit begonnen, bei uns am Bauernhof. Da war das gang und gäbe, dass zur Jause mit Wasser verdünnter Most getrunken wurde. Als ich 14 war, haben wir den Stall umgebaut, und weil ich ,so brav‘ gearbeitet habe, wurde beschlossen: ,jetzt bist ein Mann, jetzt darfst ein Bier trinken‘."

Hart arbeiten und viel trinken wie ein Mann, so gehörte es sich in seinen Augen.

"Ich habe es so weit auf die Spitze getrieben, dass ich schließlich einen schweren Verkehrsunfall verursacht habe. Das war 1984, am 17. Januar, in Deutschland. Da bin ich mit dem voll beladenen Sattelschlepper auf der Autobahn auf eine stehende Autokolonne aufgefahren. Ich hatte 3,2 Promille im Blut. Es war ein Todesopfer zu beklagen … außerdem Verletzte und großer Sachschaden."

Anonyme Alkoholiker

Der Schock war enorm. Ein teurer, aber auch ein heilsamer Schock. H. suchte die Anonymen Alkoholiker auf. Er hatte zufällig einen Radiobericht über sie gehört. Er geht auch heute noch wöchentlich zu den Treffen und hat nie mehr einen Tropfen Alkohol angerührt, seit 30 Jahren.

"Ich bin damals vom Gericht zu 36 Monaten Haftstrafe verurteilt worden. Absolut zu Recht. Eigentlich hätte es eine höhere Strafe geben müssen. Absitzen musste ich letztlich 27 Monate."

Einige Jahre nach seinem Gefängnisaufenthalt geriet H. J. in die nächste Suchtfalle, das Glücksspiel. In zwei Jahrzehnten verspielte er seine gesamte Erbschaft, mehr als fünf Millionen Euro.

Wieder süchtig geworden

"Nach anderthalb Jahren musste ich mir eingestehen: Scheiße, jetzt bist du da auch wieder süchtig! Ich musste und wollte immer mehr und noch mehr spielen. Da hat der Selbstbetrug begonnen. Denn ich dachte mir stets, ich hätte einfach zu wenig Geld dabei. (…) Für mich stand fest, dass das Mindeste, das man braucht, um einmal etwas Ordentliches zu reißen, fünfhunderttausend Schilling sind."

Während der ersten Jahre seiner Spielsucht war die Hoffnung auf Gewinn, auf das große Geld, noch der starke Anreiz für H. Dann nicht mehr. "Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass es mir gar nicht mehr ums Gewinnen geht, sondern nur ums Spielen. (…). Natürlich hatte ich ein Hochgefühl, wenn ich gewann, aber ich hatte kein Tiefgefühl mehr, wenn ich verlor."

Medikamentenmissbrauch: Trauriger Rekord

M. Sch. hielt den traurigen Rekord in der Frauenabteilung von Kalksburg: 15 bis 20 Benzos pro Tag.

Benzodiazepine zu 50 mg. Eine Dosis, die selbst ein Pferd umbringen würde. Natürlich hat M. Sch. nicht mit 1000 mg pro Tag begonnen. Sie hat die Tablettenmengen langsam, allmählich gesteigert, immer dann, wenn es ihr besonders schlecht ging, und immer dann, wenn die Wirkung des Medikaments nicht mehr stark genug war. Angstlösend, spannungslösend und beruhigend steht auf dem Beipackzettel. Ein Tranquilizer. Insbesondere bei Patienten mit Alkohol-, Arzneimittel- oder Drogenmissbrauch in der Vorge-schichte ist die Abhängigkeitsgefahr erhöht. Eine solche Vorgeschichte hat M., und zwar seit frühester Jugend. Eine erlittene Jugend, zu Hause und in der Schule.

In der Schule heruntergemacht

"Unser Lehrer hat mich andauernd heruntergemacht, hat mich beschimpft, richtig gemobbt. Ich sei ein Nichts, lernunfähig und dumm, ein Trottel. Einmal ging er so weit zu sagen, man sollte mich in einen Graben werfen, dann könnten meine Mitschüler auf mich spucken. Ja! Die gesamte Klasse hat gelacht. (…) So ging das regelmäßig und so lange, bis ich selbst überzeugt war: Ich bin ein Trottel."

Wenig Glück hatte M. auch in ihrer ersten Ehe. Zuerst sah es so aus, als sollte ihr Kinderwunsch nicht und nicht in Erfüllung gehen. Nach drei Fehlgeburten schien die Schwangerschaft dann endlich regulär zu verlaufen. Doch einen Tag vor der Entbindung teilten die Ärzte des Krankenhauses in Salzburg den Eltern mit, es gebe Probleme. Das Mädchen sei nicht gesund.

Kind verloren

"Sie haben mir erklärt, sie habe einen Wasserkopf und werde behindert sein. Einen Tag vor der Geburt. (…) Ich wollte auch bis zum Schluss nicht einsehen, dass sie sterben muss. Ich hätte sie auch als Behinderte geliebt, es war ja mein Kind." Es gelang nicht, den Gehirntumor erfolgreich zu behandeln. Das Mädchen starb ein Jahr nach der Geburt. Hatte M. während der Schwangerschaft und während sie ihre Tochter stillte nicht getrunken, so griff sie danach umso verzweifelter zur Flasche. Sie fiel in eine tiefe Depression. Nach der Beratung durch eine Psychologin und einen Psychiater wurde sie wegen Suizidgefahr in die Christian-Doppler-Klinik in Salzburg eingeliefert.

Suizidgefährdet

"Dort haben sie mich ein Dreivierteljahr lang stationär behandelt. Ich hatte mir ja die Pulsadern aufgeschnitten und musste genäht werden. Ein anderes Mal war ich total fertig, hab Schnaps getrunken und mich auf ein Bahngleis gestellt. Ich wollte, dass der Zug Schluss macht mit mir. Die Polizei hat mich wieder in die geschlossene Anstalt in Salzburg gebracht. Dort wurde ich dann erstmals mit Benzos behandelt, mit Psychopax-Tropfen und mit Anxiolit. Die Medikamente wurden dann immer stärker und immer mehr. (…) Weil mir die Ärztin keine größeren Mengen verschrieben hat, kaufte ich sie auf dem Schwarzmarkt, am Praterstern. Dort bekommt man ja alles. Drogen natürlich, aber auch Substitutionsmittel wie Methadon, Amphetamine und eben auch Praxiten, um 40 Euro die Schachtel. Und weil ich irgendwann schon zwischen 15 und 20 50-mg-Tabletten brauchte, um den Tag bewältigen zu können und um mein Glücksgefühl zu retten, gab ich im Monat bis zu 1000 Euro dafür aus."

M. Sch. ist seit einem Jahr Tranquilizer-abstinent.

Info

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Neues Buch„süchtig. Von Alkohol bis Glücksspiel. Abhängige erzählen“: In seinem Buch (Kremayr & Scheriau, 192 Seiten, 22 Euro) erzählt Lorenz Gallmetzer seine Geschichte – und jene von zwölf Menschen, die er in der größten Suchtklinik Europas kennengelernt hat.

Zur Person Lorenz Gallmetzer, 1952 in Südtirol geboren, war jahrelang ORF-Korrespondent in Washington und Paris. Nach der Rückkehr nach Wien arbeitete er als Reporter für das ORF-Weltjournal und als Sendungschef des Club 2. Der Publizist und Autor lebt in Wien.

Morgen, Dienstag, lesen Sie: Suchtexperte Univ.-Prof. Michael Musalek über die Orpheus-Therapie