Wirtschaft

Wallraff: "Eine Art von Kastengesellschaft"

Der bekannteste Aufdecker der vergangenen 40 Jahre ortet nach Reportagen über Paket-Zusteller, eine Großbäckerei für den Diskonter Lidl und über Callcenter ein Umdenken bei den Unternehmen und in der Öffentlichkeit. Im KURIER-Gespräch fordert Günter Wallraff Maßnahmen gegen die seit Jahren fortschreitenden Verschlechterungen auf dem Arbeitsmarkt. Mindestlöhne und Arbeitszeitverkürzung sind für ihn das Mindeste.

KURIER: Sie haben in Ihren jüngsten Reportagen unzumutbare Arbeitsbedingungen und Arbeitsverträge in der Paketdienstbranche, in einer Großbäckerei für den Diskonter Lidl und in Callcentern angeprangert. Gibt es ähnliche Entwicklungen auch in anderen Branchen?

Günter Wallraff: Die Entrechtung findet in allen Bereichen statt. Die sozialen Standards sind zum Teil nicht mehr gültig. Und es gibt eine Spaltung der Arbeiterschaft: Heute ist nur noch jede fünfte Stelle, die angeboten wird, eine Vollzeitarbeitsstelle. Die anderen sind Teilzeitjobs, Minijobs oder Leiharbeiterstellen. In Deutschland arbeiten schon Millionen Menschen am Rande oder bereits unter dem Existenzminimum. Es gibt immer mehr Branchen, in denen diese Entwicklung abläuft. Auch in der Autoindustrie gibt es immer mehr Leiharbeiter und seit einiger Zeit immer öfter trickreiche Verträge über Scheinselbstständigkeit. Hier findet eine Entwicklung von einer Klassengesellschaft zu einer Art von Kastengesellschaft statt. In den nächsten Jahren sehe ich Verwerfungen, die alles in Frage stellen. Ich sehe langfristig sogar die Demokratie gefährdet.

Haben Ihre Reportagen etwas bewirkt?

Es findet langsam eine Bewusstseinsänderung bei den Menschen statt. Das Prekariat ist nicht mehr das Proletariat früherer Zeiten, es gibt immer mehr gut Ausgebildete. Ganz neu ist, dass plötzlich auch Führungskräfte zu mir kommen. Einer der Vorstände von Hermes suchte mich auf, der von DPD kommt nächste Woche. Sie zeigen eine gewisse Bereitschaft, etwas ändern zu wollen. Aber nur, wenn a uch die anderen Firmen mitmachen. Allein könnten sie wenig machen, weil sie dann nicht mehr wettbewerbsfähig wären. Ich konfrontiere sie ganz bewusst mit dem Ausmaß des Elends und der Entrechtung in der Branche.

War auch schon eine Manager von GLS bei Ihnen?

Nein. Ich habe GLS-Konzernchef Ricco Back, der in der Holding in Amsterdam sitzt, angeboten, zu ihm zu fahren. Aber er hat bisher nicht darauf reagiert, obwohl er zuvor öffentlich bekundet hatte, er müsse mir für meine Reportage dankbar sein.

Sie sagen, das Prekariat wächst unaufhaltsam. Was muss geschehen, um diese Entwicklung zu stoppen. Reicht das Festsetzen von Mindestlöhnen?

Mindestlöhne sind das Mindeste. Aber mit 8 Euro fünfzig ist es nicht getan, das müssten schon zehn Euro sein. Aber es geht hier auch um Tarifverträge und vor allem auch um Arbeitszeitverkürzung. Es wird immer wieder gesagt, dass die Schaffung neuer Jobs das Wichtigste ist. Aber es geht auch um menschengerechte und sozial verträgliche Arbeitsplätze. Es lassen sich viele, vor allem im Ausland, vom sogenannten Jobwunder in Deutschland blenden.

Auch die deutschen Gewerkschaften? Diese sind ja zum Teil mitschuld an dieser Entwicklung …

Die Gewerkschaften können nur so stark oder schwach sein wie ihre Mitglieder. Auch die großen Gewerkschaften wie Verdi (deutsche Dienstleistungsgewerkschaft, Anm.) oder die IG Metall hatten in der jüngsten Vergangenheit einen enormen Mitgliederschwund. Jetzt gibt es eine Trendwende, es treten auch Jüngere bei, langsam geht es wieder aufwärts.

Die Arbeitszeitverkürzung hat ja nicht funktioniert. Frankreich musste die 35-Stundenwoche wieder zurücknehmen…

In einem einzigen Land in Europa funktioniert das natürlich nicht. Wenn es die Arbeitszeitverkürzung in mehreren Ländern gibt, schaut das schon ganz anders aus.

Was halten Sie von höheren Vermögenssteuern?

Ich finde, es braucht eine Erbschaftssteuer und die ganz großen Vermögen müssten wesentlich höher versteuert werden als bisher. Wir haben im Moment ja einen Niedrigststeuersatz für die Allerreichsten.

Eine ketzerische Frage: Sie werden heuer siebzig. Können wir damit rechnen, dass Sie demnächst eine Reportage über den Zustand in deutschen Pensionisten- oder Pflegeheimen machen?

(Lacht) Das habe ich vor Jahren schon einmal vorgehabt, als es mir körperlich dreckig ging. Zusammen mit meinem Kollegen Markus Breitscheidl, der Pfleger sein sollte und ich der zu Pflegende. Dann war ich nach einer Operation wieder voll belastbar und ich hoffe, dass ich diese Rolle noch möglichst lang hinausschieben kann. Übrigens: Markus Breitscheidl arbeitete zwei Jahre als Pfleger in verschiedenen Pflegeheimen und schrieb darüber den Bestseller: "Abgezockt und totgepflegt."

Soziales Netzwerk nimmt Staat und EU in die Pflicht

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Ähnlich wie den Preis für die "dreisteste Werbelüge" der deutschen Organisation Foodwatch will im nächsten Jahr das österreichische Netzwerk Soziale Verantwortung (NeSoVe) einen "Preis" für das "unverantwortlichste Unternehmen Österreichs" vergeben. Details will NeSoVe-Vorstand Franz Fiala vorerst nicht bekannt geben, aber es gebe "bereits einige Unternehmen, die diese Auszeichnung schon heuer verdient hätten".

Heftige Kritik übt der Chef der NeSoVe – ein Verein aus insgesamt 30 Organisationen, vor allem NGOs – an der europaweiten Politik der "Corporate Social Responsibility" (CSR). Die Lobby der Unternehmen habe – bekrittelt Fiala – verhindert, dass diese wichtige Materie durch EU-Richtlinien geregelt wird. Stattdessen habe die EU darauf vertraut, dass freiwillige Vereinbarungen ausreichten. Das sei allerdings eine völlig falsche Einschätzung.

Zur Person: Günter Wallraff

Karriere Der 1942 geborene Kölner startete seine Berufslaufbahn – wie übrigens auch sein väterlicher Freund Heinrich Böll – als Buchhandelslehrling. Zu schreiben begann er bereits in den 1950er-Jahren, zunächst verfasste er Gedichte nach dem Vorbild des früh verstorbenen deutschen Literaten Wolfgang Borchert. 1963 legte sich Wallraff zum ersten Mal mit dem Establishment an. Er verweigerte nach Ablehnung seines Antrags auf Kriegsdienstverweigerung den Dienst mit der Waffe bei der Bundeswehr. Dafür landete er in der psychiatrischen Abteilung des Bundeswehrlazaretts. Als "abnorme Persönlichkeit" wurde er als "für Krieg und Frieden untauglich" entlassen. Anfang der 1970er-Jahre protestierte Wallraff gegen das Militärregime in Griechenland und kettete sich aus Protest auf dem Syntagmaplatz in Athen an.

Undercover Berühmt wurde Wallraff durch seine Bild-Beschreibung, für die er 1977 vier Monate lang als Hans Esser beim deutschen Zeitungskonzern in Hannover arbeitete. Wallraff verdingte sich auch als türkischer Gastarbeiter in deutschen Unternehmen, testete die Arbeitsbedingungen bei McDonald’s und recherchierte zuletzt als Bote beim Paketdienst GLS.