Tschechien: Arbeitskräfte verzweifelt gesucht
Von Anita Staudacher
Viktor Wagner, Chef des Gebäudereinigers Reiwag ist verzweifelt: "Wir können derzeit Aufträge nur unter Vorbehalt einer erfolgreichen Mitarbeitersuche annehmen", schildert er die Lage in seiner tschechischen Niederlassung in Prag. Mehr als 30 Stellen könnten sofort besetzt werden, aber der Arbeitsmarkt sei völlig leergefegt. Dabei könnte das Geschäft beim Nachbarn brummen wie überhaupt noch nie, seufzt der Unternehmer.
Alle Branchen betroffen
So wie Reiwag gehe es derzeit vielen österreichischen Niederlassungen in Tschechien, bestätigt Christian Miller, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in Prag. Viele Aufträge würden liegenbleiben, erste Firmen würden schon ihre Maschinen abbauen und woanders aufstellen. "Der Arbeitskräftemangel ist längst systemisch, er betrifft alle Branchen", so Miller. Landesweit gebe es derzeit 190.000 offene Stellen, am schwierigsten sei die Situation in Prag und der Region Südböhmen. Tschechien hat die EU-weit niedrigste Arbeitslosenrate, zuletzt war sie mit 2,9 Prozent fast halb so hoch wie in Österreich.
Die für das Land so wichtige Automobilindustrie gibt kräftig Gas. Im ersten Halbjahr fuhren Škoda und Hyundai ihre Produktionen hoch, auch die Lkw-Legende Tatra Trucks erlebt einen Aufschwung. Die Wirtschaft soll heuer um 2,8 Prozent wachsen, die akute Personalnot könnte das Ziel aber gefährden, warnen Ökonomen. Mit folgenden Maßnahmen wird versucht, gegenzusteuern:
- Höhere Löhne Die Regierung hat erst kürzlich eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um 1200 auf 12.200 Kronen (480 Euro) ab 2018 beschlossen. Der Stundensatz steigt von 66 auf 73,20 Kronen. Der durchschnittliche Monatslohn brutto ist mit 27.889 Kronen – umgerechnet ca. 1032 Euro – immer noch nicht auf Westeuropa-Niveau, holt aber stark auf. Viele Betriebe, etwa ausländische Handelsketten, werben mit höheren Gehältern um Personal. IT-Spezialisten können mit 2800 bis 3500 Euro rechnen.
- EU-Gastarbeiter Allen Vorurteilen zum Trotz: Tschechische Unternehmen nehmen längst mehr Arbeitskräfte aus anderen EU-Ländern auf als sie selbst in die EU entsenden. Laut Angaben der Regierung wurden 2014 10.400 Arbeitnehmer in die EU geschickt, vor allem nach Deutschland. Nur 1200 arbeiteten vorübergehend in Österreich. Hingegen kamen 17.200 ausländische Arbeitskräfte nach Tschechien, die meisten aus der Slowakei (7000), gefolgt von Deutschen und Polen. Auch die Grenzpendler aus Deutschland werden mehr. Während täglich knapp 16.000 Tschechen zu ihrem Arbeitsplatz nach Bayern pendeln, nehmen inzwischen 1800 Deutsche den umgekehrten Weg – und helfen vor allem im Automotive-Bereich, den Fachkräftemangel abzufedern. Die VW-Tochter Škoda ist der größte Arbeitgeber des Landes.
- Ukrainer Wie Polen (siehe Artikel unten) will auch Tschechiens Wirtschaft vermehrt Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern, vor allem aus der Ukraine, anwerben. Die Ukrainer sind hinter den Slowaken die zweitstärkste Ausländergruppe im Land, rund 110.000 leben nach Angaben des Statistikamtes hier. Die Zahl der Arbeitsvisa für Ukrainer wurde heuer auf 7600 verdoppelt. Erst kürzlich erlaubte die Regierung erstmals Leiharbeitsfirmen qualifiziertes ausländisches Personal anzuwerben. Österreichische Firmen wünschen sich auch eine Art "Rotweißrot"-Karte für qualifizierte Zuwanderung wie in Österreich. Für Hilfskräfte bleiben außerhalb des limitierten Saisonier-Kontigents für die Landwirtschaft die Grenzbalken weiter zu.
Kann es sein, dass der polnische Staat Ukrainer im Schnelldurchgang zu Polen macht und diese dann die Arbeitnehmerfreizügigkeit der EU nutzen, um in Westeuropa umzusiedeln? Ein solches Szenario wurde kürzlich in deutschsprachigen Medien diskutiert. Aufgehängt wurde diese Frage an der „Karta Polaka“, ein Einbürgerungsausweis für Staatsbürger der ehemaligen Sowjetrepubliken mit polnischen Wurzeln. Nach einer Zeit kann die volle polnische Staatsbürgerschaft beantragt werden.
Der Beschluss zu dieser „Karta Polaka“ feierte am Donnerstag sein zehnjähriges Bestehen – seitdem sind 200.000 polnischstämmige Ukrainer und Weißrussen nach Polen emigriert. Wenn auch theoretisch mehr polnische Ukrainer die polnische Staatsbürgerschaft besitzen und somit die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU in Anspruch nehmen können, so gibt es dennoch ein starkes Argument für den Verbleib in Polen – die sprachliche Nähe und der Wirtschaftsboom. Das Wirtschaftsministerium rechnet heuer mit einem Wachstum von 3,8 Prozent, die Arbeitslosigkeit lag zuletzt bei niedrigen 4,8 Prozent.
Polen ist kein Billiglohnland mehr. Fachkräfte müssen gut bezahlt werden, damit sie nicht abwandern. Derzeit sind 770.000 Ukrainer in Polen offiziell beschäftigt, allein im Vorjahr kamen 150.000 hinzu. Der polnische Durchschnittslohn liegt bei 4500 Zloty brutto, dies entspricht etwa 1060 Euro. Allerdings plant das polnische Innenministerium die Arbeitsmigration nichtpolnischer Ukrainer zu begrenzen.
Brexit-Folgen
Der wirtschaftliche Aufschwung soll auch auswärts arbeitende Polen ins Vaterland ziehen. Nach Angaben der Polnischen Presseagentur sei die Rückemigration nach Polen aktuell dreimal so hoch wie die Arbeitsmigration in andere Länder. Vor allem aus Großbritannien kämen angesichts des drohenden Brexits und der damit verbundenen Unsicherheiten für den Aufenthaltsstatus viele Polen zurück. Noch im Vorjahr erklärten 80 Prozent der etwa eine Million Polen in Großbritannien, dort ausharren zu wollen. Allerdings bezieht die Presseagentur ihre Zahlen von eine Suchmaschine im Netz, die beim Finden von Umzugsfirmen hilft.
Grundsätzlich will die nationalkonservative Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) ein positives Bild von der Entwicklung in Polen zeichnen. Stefan Stantejsky vom österreichischen AußenwirtschaftsCenter in Warschau beobachtet einen Rückgang der polnischen Arbeitsmigration auch nach Österreich. Gleichzeitig mache sich der Fachkräftemangel bei österreichischen Firmen an der Weichsel bemerkbar, besonders in den Branchen Plastikverarbeitung, IT und im Outsourcing. In einer Erhebung vom vergangenen Jahr wurde unter den österreichischen Firmen vor allem die Wirtschaftspolitik Polens bemängelt.
Jens Matern, Warschau