Wirtschaft/Karriere

Wer früher gestresst ist,ist länger tot

Wer Stress in der Arbeit hat, könnte genauso gut den ganzen Tag Passivrauchen. Der schädigende Effekt für die Gesundheit ist derselbe. Das klingt vielleicht drastisch. Schön zu reden ist folgender Zusammenhang aber nicht: Arbeit beeinflusst den Gesundheitszustand eines Menschen und sogar seine Lebenserwartung.

Der griffige Passivraucher-Vergleich stammt nicht vom Gesundheitsministerium, sondern von Forschern der renommierten Universitäten Stanford und Harvard, die in einer Meta-Analyse 228 Studien betrachtet haben. Daraus haben sie zehn Arbeitsplatz-Stressoren verdichtet, die die Gesundheit ruinieren. Besonders schädlich sind: Keine Versicherung zu haben, Arbeitslosigkeit, viele Überstunden, große Jobunsicherheit und geringe Job-Kontrolle. Menschen mit hoher Arbeitsbelastung und dem damit verbundenem Stress sollen bis zu drei Jahre ihrer Lebenserwartung einbüßen. Das treffe vor allem Menschen mit geringer Ausbildung und den dadurch erschwerten Jobbedingungen. Klar, die Forscher beziehen sich auf die amerikanische Gesellschaft. Doch viele dieser Faktoren hörte man so in den vergangenen Wochen auch vom österreichischen Arbeitsmarkt.

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Interessant ist, dass Österreicher ihren eigenen Gesundheitszustand anders einschätzen. Ganz blendend nämlich: Laut der aktuellen österreichischen Gesundheitsbefragung 2014 schätzen 79 Prozent der Österreicher ihren Gesundheitszustand als "sehr gut" oder "gut" ein – das ist ein Anstieg um drei Prozent im Vergleich zu 2006/2007. Damals wurde der Report zuletzt veröffentlicht. Diese Ergebnisse passen gut mit jenen des gestern erschienenen Fehlzeitenreport 2015 zusammen: Er zeigt, dass die Krankenstandstage seit 1980 abgenommen haben (siehe unten).

Steht es also bestens um die Psyche und Physis der Österreicher? Nicht so ganz.

Zunahme des Wahnsinns

Rudolf Karazman, Arbeitsmediziner und Gründer der IBG, einem Institut für humanökologische Unternehmensführung, erklärt: "Arbeit hat gesundheitlich einen Doppelcharakter: Sie kann krank machen, wenn sie nur Verausgabung bedeutet. Sie kann aber die Gesundheit fördern, wenn ich in ihr Sinn finde, sozial integriert bin und regenerieren kann. Wir sind Sozialwesen und wo die Arbeit Erfüllung und Beziehung mit sich bringt, bereichert sie. Ich würde sagen, dass die Hälfte der Arbeitswelten so ist." Die andere Hälfte der Arbeitswelten übe Druck aus.

Laut Statistiken nehmen die psychischen Leidenszustände seit Jahren zu. Laut Fehlzeitenreport waren 2013 2,3 Prozent aller Krankenstände auf psychische Ursachen zurückzuführen, 2014 waren es 2,5 Prozent. Das scheint nicht viel zu sein. Doch in einigen Untersuchungen wurde die Wechselwirkung zwischen psychischen und physischen Belastungen beschrieben.

Karazman erklärt diesen Trend einerseits damit, dass psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft heute eher akzeptiert würden und leichter diagnostizierbar sind. Andererseits aber zeichnet die flexibilisierte und globalisierte Arbeitswelt mit ihrer Always-on-Mentalität, Großraumbüros, Management by Stress und prekären Arbeitsverhältnissen verantwortlich. "Zudem kann sich keiner mehr entärgern. Dabei ist Ärger eine Hauptkrankheit in der Arbeitswelt", sagt Karazman, der soeben sein Buch "Human Quality Management: Menschengerechte Unternehmensführung" veröffentlicht hat.

Alles Süchtler?

Wie man das alles kompensiert? Michael Musalek ist Leiter des Anton Proksch Instituts, einer Klinik für Suchtkranke. Er sagt, dass Doping in der Gesellschaft zunimmt. "Das Tragische ist, dass wir eigentlich nicht in einer Leistungsgesellschaft leben, sondern in einer Erfolgsgesellschaft. Wenn wir keinen Erfolg haben, ist es egal, wie viel wir leisten. Damit gerät der Mensch massiv unter Druck. Das muss er kompensieren." Amphetamine und Kokain würden genommen, um Leistung zu bringen; Tranquilizer und Alkohol, um ruhiger zu werden. Manager seien besonders gefährdet – denn für sie gilt der Erfolgsdruck tagtäglich.

Dabei konnten Studien zeigen, dass die schwächeren Schichten auch die kränkeren sind: "Weil sie nicht so viel Zeit und auch nicht die Möglichkeiten haben, auf sich zu schauen. Doch die Schere wird kleiner, denn den Druck haben mittlerweile alle. Die meisten Vorgesetzten haben ja selber auch wieder Vorgesetzte", sagt Musalek.

Die Lösung: gute Führung

Wer also trägt die Verantwortung für die Gesundheit? Der Chef, der nicht einmal sich selbst Schwäche und Defizite eingestehen kann?

Monika Spiegel vom Institut Psyche und Wirtschaft von der Sigmund Freud Privatuniversität erklärt: "Führungskräfte haben einen inneren Auftrag, wollen mehr leisten als andere. Sie setzen sich auch mit Bandscheibenvorfall ins Büro." Krankheit zuzugeben, gelte in diesen Kreisen als schwach. "Im Topmanagement muss man sich gesund einschätzen, Kranksein ist keine Option. Das ist verboten. Da muss man schon zusammenbrechen", sagt Monika Spiegel.

Auch dem neuen WdF-Report nach schätzen 67 Prozent der Manager ihren Gesundheitszustand als gut ein, sogar 18 Prozent schätzen diesen als ausgezeichnet ein. Interessant ist, dass trotzdem 57 Prozent angeben, dass Stress und psychische Belastung auf sie zutrifft. 47 Prozent klagen über Bewegungsmangel und jeweils 29 Prozent über Über- und Untergewicht und ungesunde Ernährung. "Auf Nachfrage meinen 27 Prozent der Befragten, dass sie aktuell gesundheitliche Schwierigkeiten haben", so Studienautor Felix Josef von Triconsult. Der Hernstein Management-Report von Mai schärft das Bild: Rund die Hälfte der Befragten fühlt sich verstärkter Belastung ausgesetzt. Zeitknappheit, wenige Pausen und mangelnde Planbarkeit ist für viele ein Thema. Was sie gerne an ihrer Führungsrolle ändern würden? Zwischenmenschliche Aspekte stehen ganz oben auf der Wunschliste.

Da geht es den Chefs wie ihren Mitarbeitern. Was sie oft vergessen: "Gute Führung geht mit weniger Krankenständen einher", sagt Karazman. Was er unter guter Führung versteht: "Im Mittelpunkt steht, dass die Mitarbeiter die Quelle der Wertschöpfung sind. Ich sehe mich als Dienstleister meiner Mitarbeiter. Ich schau darauf, dass sie sich gut entwickeln, dass niemand unter die Räder kommt. Schlechte Führung hingegen sieht die Mitarbeiter als Problem, als notwendiges Übel."

Kürzere Krankenstände, weniger Arbeitsunfälle, aber eine Zunahme der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen. So lässt sich der Fehlzeitenreport 2015 zusammenfassen, der in Kooperation vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger, der Wirtschaftskammer und der Arbeiterkammer jährlich veröffentlicht wird.
Generell sind die Fehltage über die vergangenen Jahren weiter gesunken: Waren es 2013 noch 13 Tage, die ein unselbstständig Beschäftigter im Schnitt krankheitsbedingt zu Hause blieb, waren es 2014 nur 12,3 Tage. 1980 waren es noch 17,4 Krankenstandstage – das war der Höchstwert seit Beginn der Erhebung.
Die Gründe dafür: Die Entwicklung von einer Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft, wodurch weniger Arbeitsunfälle verursacht werden. Außerdem wird angenommen, dass die höhere Teilzeitquote und atypischen Beschäftigungsverhältnisse die Krankenstandsquote senken. Ältere Mitarbeiter bleiben statistisch länger im Krankenstand als junge: Ab 40 steigt die Summe der Krankenstandstage an und erreicht bei Beschäftigten zwischen 60 und 65 Jahren den Höchstwert.
Da die Älteren einen immer größeren Anteil der erwerbstätigen Gruppe stellen, müssen dringend Maßnahmen getroffen werden, um sie länger im Arbeitsprozess zu halten. Wie das möglich ist, erklärt der Wirtschaftspsychologe Bertolt Meyer in einem Interview auf Seite 13.

Krankenstandsursachen

Die häufigsten Krankenstandsursachen (knapp 50 Prozent) sind heute Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems und des Atemsystems. Ein weiterer Trend: Die steigende Häufigkeit von psychischen Erkrankungen. Die Gründe: Das gestiegene Bewusstsein und die größerer Akzeptanz von psychischen Erkrankungen und die bessere Diagnostizierbarkeit. Helmut Ivansits, Sozialexperte von der Arbeiterkammer Wien, fügt zudem die Veränderung in der Arbeitswelt, den steigenden Druck, hinzu. Einen Grund für die kürzeren Krankenstände sieht er – abgesehen von den selteneren Arbeitsunfällen – im sogenannten Präsentismus: „Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen krank arbeiten gehen. Das tun sie aus mehreren Gründen: Um nicht gekündigt zu werden oder die Kollegen nicht im Stich zu lassen.“
Krankenstände stellen nicht nur für die Beschäftigten, die eben auch negative Folgen für die Karriere befürchten müssen, eine hohe Belastung dar, sondern auch für die Betriebe und die Volkswirtschaft: Im Jahr 2013 beliefen sich die direkt zuordenbaren Krankenstandskosten in Summe auf 3,4 Milliarden Euro – das entspricht 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Nur 21 Prozent der Unternehmen haben laut Arbeiterkammer bei ihren Mitarbeitern nachgefragt, was sie stresst, unter welchen Umständen Arbeit für sie zur psychischen Belastung wird. Immerhin haben 24 Prozent der Betriebe die Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen in Planung. Dabei hatten sie dafür bereits fast zwei Jahre Zeit. Denn seit Anfang 2013 sind Unternehmen – seit Inkrafttreten der Novelle des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes 2013 – gesetzlich eben dazu verpflichtet.

„In erster Linie kommen große Unternehmen dieser Verpflichtung nach“, sagt Helmut Invasits von der Arbeiterkammer Wien. Die Betriebe müssten stärker in die Pflicht genommen und besser aufgeklärt werden. „Es muss ihnen klar werden, dass sich Gesundheitsmanagement rentiert: Pro investiertem Euro in Gesundheitsmaßnahmen hat man einen Return of Investment von 5 bis 10 Euro.“

Erstaunlich ist, dass Führungskräfte, wie eine Betriebsrätin erzählt, oft nur wenig von den Belastungen ihrer Mitarbeiter wissen. Dabei verlangen diese nicht rasend viel: Grob gesagt wollen sie ein angemessenes Arbeitspensum und Einkommen, Pausen, einen gut erträglichen Arbeitsplatz, Wertschätzung und ein bisschen Spielraum.
Wie die Evaluierung anzulegen ist, steht den Arbeitgebern frei – jedoch müssen die Verfahren ISO-zertifiziert sein. Infos und Fallbeispiele gibt es online und in dem Buch Die Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen von Alexander Heider und Johanna Klösch. Infos zu betrieblicher Gesundheitsförderung sind etwa auf www.netzwerk-bgf.at zu finden. Das Institut Psyche und Wirtschaft von der Sigmund Freud Privatuni bietet ab Jänner einen Lehrgang zu „Gesundes Führen in schwierigen Zeiten“ an.