Wirtschaft/Karriere

Vinzent, 25, obdachlos

Vinzent* ist, wie so oft, zu früh dran. Abendessen gibt es erst ab 18.30 Uhr. Er geht zurück in die Bibliothek. In einer Stunde wird er die U6 nehmen. Nach fünf Stationen aussteigen, die Wilhelmstraße nach Osten gehen. Das rote Tor öffnen, auf dem „VinziRast CortiHaus“ zu lesen ist. Über einem Knopf steht: Aufnahme Notschlafstelle. Vinzent ist seit zwei Jahren obdachlos, lebt hier seit über einem Jahr, denn er findet keine Arbeit.

Vinzent ist jung und gebildet. Das ist ein Vorteil. Doch der Arbeitsmarkt ist knallhart. Gnadenlos wird ausgesiebt, was nicht glänzt wie Gold. Da ist kein Platz für Obdachlosigkeit, denn sie wird gleichgestellt mit Disqualifikation. Wer keinen Wohnsitz hat, der kann nichts können. Mit diesen Vorurteilen kämpfen alle Menschen, die auf der Straße leben.

Vor vier Jahren, mit 21, kam Vinzent alleine nach Österreich. Sein Plan war, hier zwei Wochen Geld für die Uni zu verdienen und dann zurückzukehren. Das durchschnittliche Einkommen in Rumänien ist erschlagend niedrig. Pro Monat liegt es, laut Institut für Höhere Studien, bei 466 Euro – das sind 15 Euro pro Tag. Er verdiente auch in Rumänien schon gut, doch hier, in Österreich, war das Geld üppig und die Menschen freundlich – er blieb.

Um Geld zu sparen, schlief Vinzent 14 Nächte in einem Kofferraum, dann in einem Mehrbettzimmer mit anderen Arbeitern. Ein Bekannter ermöglichte ihm den Einstieg in die Handels-Branche. Vinzent holte Dokumente und Zeugnisse aus Rumänien, legte sie der WKO vor. Im Rahmen der Dienstleistungsfreizügigkeit konnte er als Drittstaatsangehöriger eine selbstständige Tätigkeit anmelden. Er war sein eigener Chef. Und machte einen Fehler: Er wurde übermütig. „Ich habe ein extravagantes Leben gelebt, den Überblick über meine Finanzen verloren. Als ich versuchte, das Schiff zu retten, war es zu spät“, sagt er.

Er fragt nach der Uhrzeit. Vinzent besitzt eine Uhr, doch sie funktioniert nicht. Seit einem halben Jahr stehen die Zeiger auf 5.30 Uhr, weil er kein Geld für Batterien hat. Vinzent hat einen Kalender, ein Geschenk, das er gut gefüttert mit Terminen in seiner Jackentasche bewahrt. Obdachlos sein heißt nicht, Zeit zu haben. Im Gegenteil, es bedeutet Struktur und Unfreiheit. Morgens um sieben geht in der Notschlafstelle VinziRast das Licht an, Frühstück. Kurz nach acht Uhr, wenn die anderen Bewohner das Haus verlassen müssen, sammelt Vinzent die Wäsche ein. Waschen, aufhängen, trockene Bezüge und Klamotten falten. Dann geht er in die Bibliothek. Mit seiner Karte kann Vinzent eine Stunde lang im Internet surfen, Job suchen, Bewerbungen und eMails schreiben. Er liest gern, mag Geschichte. Laut Lebenslauf spricht er Deutsch, Englisch, Rumänisch, Serbisch und Italienisch.

Der nächste Termin: 12.45 Uhr, Mittagessen in der Gruft. Hier ist es für diese Menge an Menschen leise. „Menschen, die wie ich in dieser Situation sind, beschränken sich oft auf eine einfache Sprache. Mein Sprachschatz hat dadurch enorm abgebaut“, sagt Vinzent. Familie zu der er zurückgekonnt hätte, hatte er nicht, sagt er. Freunde haben ihn verlassen, als die Schulden zunahmen, wurden letztlich zu Spöttern. Er verlor Wohnung und Halt.

Ohne Anstellung

Arbeitsmarkt-Experte Gernot Mitter erklärt: „Ohne Wohnsitz einen Job zu finden, das gelingt auch Österreichern schwer.“ Für rumänische Staatsbürger sei eine Anstellung vor 1. Jänner 2014 fast unmöglich gewesen. „Vinzent hätte einen Arbeitgeber finden müssen, der sich um eine Beschäftigungsbewilligung bemüht. Und die gab es nur, wenn der Arbeitgeber die Stelle nicht mit einem österreichischen oder einem ausländischen Arbeitnehmer, der Freizügigkeit am Arbeitsmarkt genießt, besetzen konnte.“

Seit Jahresbeginn dürfen Rumänen und Bulgaren frei in ganz Europa arbeiten. Wie viele Menschen nach der Arbeitsmarktöffnung nach Österreich kommen, ist schwer zu schätzen. Das Institut für Höhere Studien geht von 5500 zusätzlichen Zuwanderern aus, drei Viertel davon könnten aus Rumänien stammen. 70 Prozent der Arbeitskräfte aus Rumänien sind zwischen 15 und 44 Jahre alt.

In der VinziRast sind viele Nationalitäten und Altersklassen vertreten. Vinzent setzte seine Sprachkenntnisse bald als Übersetzer ein. Seit Dezember postet er als „Vinzi Gast“ auf Facebook über seinen Alltag. Eine Idee der Werbeagentur Demner, Merlicek & Bergmann, die VinziRast pro bono unterstützt, um auf die schwierige Situation von Obdachlosen aufmerksam zu machen. Vinzent: „Ich dachte, vielleicht kann ich so helfen, dass Obdachlose nicht länger als Unmenschen abgestempelt werden.“ Mehr als 5600 Menschen verfolgen seine Posts als „Vinzi Gast“, fiebern mit, wenn er über seinen Alltag und seine Bewerbungsversuche postet. Auch am Donnerstag postet er: „Möglicherweise werde ich nächste Woche arbeiten. Toi Toi Toi.“ „Vinzent“ ist ein Pseudonym. Er will anonym bleiben

KURIER: Wie soll Vinzent bei Bewerbungen damit umgehen, dass er seit zwei Jahren obdachlos ist?

Peter Pendl: Ich würde mit offenen Karten spielen, denn irgendwann kommt die Wahrheit ans Licht. Ein Vertrauensbruch ist schwer zu überwinden. Vinzent, was haben Sie aus dieser Erfahrung gelernt?

Vinzent: Ich habe erfahren, wie sich der Körper verwandelt, wenn er schlechten Lebensbedingungen ausgesetzt ist. Ich habe gelernt, wie die Seele leidet, wenn man verspottet wird, oder ständig abgewiesen. Das hat mir mehr Menschlichkeit beschert. Pendl: Was stellen Sie sich für die nächsten Jahre vor?

Vinzent: Ich habe aufgehört, mir Hoffnungen zu machen, weil ich im Laufe der Zeit sehr viele Absagen erhalten habe.

Was erwarten Sie sich von Arbeit?

Vinzent: Ich wünsche mir eine Arbeit, wo ich meine kommunikativen Fähigkeiten, meine Sprach- und Menschenkenntnisse einsetzen kann und mich entwickeln kann.

Pendl: Sie haben in Rumänien bereits gute Jobs gehabt. Sie haben sich in Österreich selbstständig gemacht. Das ist mutig und in einem fremden Land nicht leicht.

Vinzent: Ich bin übermütig geworden. Leider.

Pendl: Das Gute sind Ihre Sprachkenntnisse. Sie sprechen fünf Sprachen und Ihr Deutsch ist außergewöhnlich gut.

Vinzent: Danke. Seitdem ich auf der Straße bin, habe ich abgebaut. Ich bin noch nicht auf meinen 100 Prozent und das quält mich.

Pendl: Es gilt, jetzt den Einstieg zu schaffen, einen Job zu finden. Das Ad-hoc-Vertrauen herzustellen, dass Sie nicht nur arbeiten wollen, sondern sich konkret anstrengen. Dass Sie nun einige Zeit ohne Arbeit waren, ist ein Handicap. Sie werden beim Bewerbungsgespräch gefragt werden: „Was machen Sie derzeit?“

Vinzent: Derzeit suche ich eine neue Herausforderung.

Pendl: Gut. Es gibt jetzt einen Erkenntnisprozess und den müssen Sie transportieren. Nämlich, dass sie Ihre jetzige Situation beenden wollen. Für jeden Job, den Sie anstreben, müssen Sie wissen, was Sie wollen.

Vinzent: Ich möchte gerne in die Richtung segeln, wo ich mich mit realistischen Chancen entwickeln kann und wirklich meine Fähigkeiten nützen kann.

Pendl: Ich sehe den Bereich Telekommunikation und Kundenbetreuung. Aber ich kann mir auch ein Speditionsunternehmen vorstellen. Diese brauchen Mitarbeiter aus Osteuropa.

Haben Sie Tipps für den Bewerbungsprozess?

Pendl: Informieren Sie sich gut über das Unternehmen. Sie müssen im Bewerbungsprozess transportieren, dass Sie in genau diesem Unternehmen arbeiten wollen. Bringen Sie Fallbeispiele ein, wo Sie früher Schwierigkeiten bewältigt haben, die übertragbar sind auf Ihre künftige Position. Stellen Sie Vertiefungs- oder Ergänzungsfragen. So zeigen Sie Kompetenz, dass Sie mitdenken und sich interessieren. Wenn Sie Ihre Stärken aufzählen, fragen Sie am Ende zum Beispiel: „Was ist Ihnen in der Zusammenarbeit wichtig?“ Nehmen Sie sich zurück und gehen Sie darauf ein, was der andere braucht.

Vinzent: Wie kann ich mit diesen Vorurteilen umgehen, dass ich obdachlos bin und Migrant?

Pendl: Zum Thema Migrant: Wären Sie kein Ausländer, könnten Sie diese Sprachen nicht in diesem Ausmaß. Das ist ein echter Vorteil. Diversity ist für Unternehmen sehr wichtig geworden.

Zum Thema Obdachlosigkeit?

Pendl: Das Entscheidende ist, dass Sie nicht lügen. Finden Sie eine Begründung, die zu einem Vorteil wird. Wenn Sie gefragt werden, wo Sie derzeit wohnen, sagen Sie, dass Sie im Zuge der Schließung Ihrer Firma den Wohnort aufgelassen haben, um keine Schulden zu machen und dass Sie jetzt in einem Wohnheim leben. Dass Sie keine Gelegenheitsjobs mehr ausführen wollen, sondern wirklich in diesem Unternehmen arbeiten wollen. Sie lenken die Aufmerksamkeit um. Ich denke nicht, dass bei Ihnen das Thema Obdachlosigkeit aufkommt.

Vinzent: Ihr Wort in Gottes Ohren. Ich bin nicht stolz darauf, aber es ist ein Teil von mir.

Pendl: Natürlich. Aber ich sage Ihnen das jetzt knallhart: Sie wollen einen Job und der Unternehmer sucht jemanden, der etwas Gutes für das Unternehmen tut. Er will nicht Ihnen etwas Gutes tun. Finden Sie heraus, was der andere braucht, und wie Sie von Nutzen sein können.