Tabu und verbreitet: Liebesentzug im Job
Von Nicole Thurn
Sarkasmus, Zynismus und Ironie sind im Job allgegenwärtig. Denn: Wir wollen "cool sein", meint Psychiater Reinhard Haller in seinem Buch "Die Macht der Kränkung".
Mit Folgen: Drei bis fünf von hundert Arbeitnehmern fühlen sich im Job ernsthaft gekränkt, abgewertet oder verleumdet. Laut Studien gehen 15 bis 25 Prozent des Arbeitseinsatzes für die Bearbeitung von Konflikten und Kränkungen verloren. "Kränkungen haben eine enorme Psychomacht", sagt Reinhard Haller.
KURIER: Sie schreiben im Buch, Kränkung ist die Ursache für das Böse in der Welt. Da denkt man zuerst an die Anschläge in Paris.
Reinhard Haller: Kriege oder Konflikte werden letztlich durch Kränkungen ausgelöst. Die Attentäter waren einst enttäuschte, gekränkte Menschen. Beim IS wird ihre minderwertige Situation in eine überstarke verwandelt: Sie fühlen sich auserwählt, als Rächer, die über Leben und Tod, über Wahrheit und Unwahrheit entscheiden.
Jetzt zum Arbeitsleben: Sie sagen, Kränkungsinkompetenz zerstört Karrieren. Inwiefern?
Kränkungen spielen in Wirtschaft und Karrieren eine außerordentlich wichtige Rolle. Im Berufsleben ist man darauf getrimmt und geschult, keine Regung zu zeigen, stets das Pokerface zu wahren. Kränkungen werden verdrängt: Sie deuten auf eine Schwäche hin, sind nur etwas für "Warmduscher, Weicheier und alte Frauen". Ihre destruktive Kraft im Betrieb wird daher nicht erkannt. Große Verträge sind daran gescheitert, weil man den anderen lieblos behandelt hat. Auch gibt es in Konflikten oft kein Ergebnis, weil das Gespräch verweigert wird. Das ist im Geschäftsleben massiv der Fall. Kränkung bedeutet negativen Stress, der zu allen möglichen Folgen führt – und zu einem großen Schaden für die Unternehmen.
Welche Folgen sind das?
Die Mitarbeiter sind frustriert, weniger motiviert, treten die innere Emigration an, machen Dienst nach Vorschrift, gehen häufiger in Krankenstand und verlassen eher das Unternehmen. Das weiß man aus Untersuchungen zu den Folgen von Mobbing. Besser als von Glück und Zufriedenheit zu reden, wäre, die Kränkungen im Job auszuschalten.
Welche Menschen sind besonders für Kränkungen anfällig?
Einerseits Narzissten: sie sind stark kränkend und kränkbar. Auch hochsensible Menschen sind extrem kränkbar, aber zu empathisch, um andere zu kränken. Menschen mit Selbstwertzweifeln gehören auch zur Hauptrisikogruppe. Kränkungen sind individuell, sie treffen immer sensible, wunde Punkte. Was den einen kränkt, kann den anderen kalt lassen.
Sie sagen, die Kränkung hat sich ins Berufsleben verlagert. Wieso?
Weil das Berufsleben für Mann und Frau viel wichtiger geworden ist. Heute leben wir unsere Aggressionen nicht durch Krieg oder Holzhacken aus, sondern durch Kränkung. Mobbing im Job hat daher zugenommen.
Was zeichnet Mobbing aus?
Es wird subtil und systematisch angewandt. Dazu gehört, dem anderen das Wort abzuschneiden, ihn von Information auszuschließen, ihm Arbeit unter seinem Niveau zuzuweisen oder ihn wegen seiner Einstellungen anzugreifen. Es ist eine Art Liebesentzug: man verweigert ihm jegliche positive Resonanz, erkennt seine Motivation und Leistung nicht an.
Warum werden Mitarbeiter Opfer von Mobbing?
Weil sie die Rolle des schwarzen Schafes haben, zurückhaltend oder schwach erscheinen.
Nehmen Kränkungen in höheren Etagen eher zu oder ab?
Eher zu. In den Führungsetagen kommt es durch den Machtzuwachs zu einem reaktiven Narzissmus. Andere Meinungen sind nicht mehr erwünscht, wären gar eine Majestätsbeleidigung. Verbreitet sind pathologische Narzissten: sie sind nicht nur innerlich unsicher und sehr kränkbar, sie müssen andere abwerten, um sich zu erhöhen. Laut Medien haben VW-Mitarbeiter ausgesagt, sie hätten sich nicht getraut, dem Vorsitzenden mitzuteilen, dass sie die geforderten CO2-Emissionen mit legalen Mitteln nicht senken können. Was ist das anderes als Angst vor der narzisstischen Kränkungsreaktion des Chefs? Seltener ist die ideale Führungspersönlichkeit mit Charisma und gesundem Narzissmus – ohne dieses Kränkungsmuster.
Wie kann man Chefs für dieses Thema sensibilisieren?
In Führungsschulungen ist das Thema tabu – es müsste viel stärker Beachtung finden.
Wird kränkendes Verhalten den Chefs eher verziehen?
Nein, ich denke, solche Chefs richten sehr viel an. Im Lauf der Jahre nimmt der Betrieb Schaden, die Mitarbeiter wollen nicht immer Speichellecker und Jubelknechte sein und sich entwerten lassen. Das erzeugt unglaubliche emotionale Spannung.
Was tun, wenn man immer wieder gekränkt wird?
Es kommt auf die Einstellung zur Kränkung an. Sie kann der Selbsterkenntnis dienen, ich kann über meine wunden Punkte mehr erfahren. Und der Fremderkenntnis à la: von XY hätte man das nicht gedacht. Kränkungen sind das beste Mittel, um die Empathie zu schärfen.
Wären wir ohne Kränkungen bessere Menschen?
Man kann nicht nicht kränken. Stephen Hawking sagte, ohne Empathie wird die Menschheit nicht überleben. Sie unterscheidet uns von den Robotern.
Reinhard Haller (64) ist ein Vorarlberger Psychotherapeut und Gerichtspsychiater, der durch Gutachten vom Bombenhirns Franz Fuchs oder Jack Unterweger bekannt wurde. Er ist Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene für Suchtkranke, und Autor diverser Bestseller wie „Die Seele des Verbrechers“ (2006), „Das ganz normale Böse“ (2009), „Die Narzissmusfalle“ (2013) und aktuell „Die Macht der Kränkung“.