Wirtschaft/Karriere

Schlummernde Begabung

98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur mehr zwei Prozent – mit dieser Statistik will der neue Film „Alphabet“ von Erwin Wagenhofer schon am Filmplakat schockieren. Nach „We feed the World“ und „Let’s make money“ setzt sich der österreichische Filmemacher zum dritten Mal kritisch mit den Auswüchsen des kapitalistischen Systems auseinander. In „Alphabet “ fordert er eine grundlegende Reform der Bildung, die Abkehr von normierten Systemen. Er hat starke Argumente, zeigt chinesische Schüler, die ihre Eltern beneiden, weil diese am Wochenende ausschlafen können. Ihr Leben hingegen besteht nur aus Lernen, Tag und Nacht. Die Belohnung: China schneidet bei PISA großartig ab. Die Kehrseite: Chinesische Kinder sind laut Film die unglücklichsten. Wagenhofer präsentiert auch, wie Bildung aussehen könnte: Kinder, die Freude am Tanzen, Malen, Entdecken haben und ohne Druck lernen, was und wann sie wollen. Hirnforscher Gerald Hüther sagt zum Höhepunkt: „Alle Kinder sind hochbegabt.“

Begabung ist heute ein geflügeltes Wort. Was es überhaupt heißt, erklärt Claudia Resch, Geschäftsführerin des Österreichischen Zentrums für Begabtenförderung und -forschung: „Jede Person hat Potenziale, die sich zu hohen Leistungen entwickeln können.“ Aber um die Begabung zu einer Spitzenleistung auszubauen, bräuchte es neben den kognitiven Voraussetzungen auch nicht-kognitive Persönlichkeitsfaktoren: Motivation, Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und eine förderliche Lernumgebung.

Aljoscha Neubauer, anerkannter Psychologe und Buchautor, lässt den Traum der hochbegabten Bevölkerung platzen: „Die Grundthese, dass 98 Prozent der Kinder hochbegabt sind, ist ein Blödsinn.“ Er versuchte die Studie zu finden. „Sie wurde nie in einem seriösen Buch oder einer Fachzeitschrift publiziert, die Autoren hatten weder davor noch danach etwas zum Thema publiziert.“ Viele Menschen seien begabt, aber eben nicht hochbegabt. Wie viele es tatsächlich sind, sei schwer festzumachen. Auch, weil nicht nur von einer Art von Intelligenz auszugehen ist. Der Psychologe Howard Gardner etwa geht davon aus, dass man im musischen Bereich, im sportlichen, im räumlichen, im logisch-mathematischen, im sprachlichen, im interpersonalen Bereich, im intrapersonellen Bereich begabt sein kann. „Gardner hat noch weitere Intelligenzen besprochen, etwa die naturalistische Intelligenz – aber diese sind eher umstritten“, erklärt Claudia Resch. Um die Begabung zu entdecken, solle man sich an den Interessen des Kindes orientieren, Primärerfahrungen ermöglichen und schon Kinder dabei unterstützen, selbstständig Antworten auf Fragen zu finden.

Von Beruf: Lemming

Bei vielen Erwachsenen haben diese Faktoren im Leben nicht zusammengespielt. Ihre Stärken und Schwächen erkennen die meisten vielleicht, im Beruf werden sie jedoch oft nicht eingesetzt. Vielleicht wirken die Talente zu banal, um sie zum Beruf zu machen. Manche, so scheint es, wollen sie nicht anerkennen, wären lieber kreativ begabt als mathematisch. Andere haben sich von ihrer Begabung entfernt, haben Jus studiert, weil sie sich davon einen sicheren Arbeitsplatz und ein hohes Einkommen versprochen haben. Aber irgendwann, wenn man nicht der Begabung und den Interessen nachgeht, wird die Unzufriedenheit größer.

Und dann? Kann man Begabung im Erwachsenenalter noch ausbilden? „Durchaus“, sagt Aljoscha Neubauer. Aber es würde vom Gebiet abhängen, wo man Besonderes erreichen will. Wo die Sensomotorik eine große Rolle spielt, etwa im Sport oder Schach, sei frühes Beginnen – bis spätestens zwölf Jahre – wichtig. „Auch in den Naturwissenschaften, in Mathematik und Physik, muss früh begonnen werden. Weil Naturwissenschaftler ihre herausragenden Leistungen bis zum Alter von 35 bis 40 Jahren haben müssen. Danach nimmt die fluide Intelligenz, das schlussfolgernde Denken, wieder ab“, sagt Neubauer. Für Geisteswissenschaftler liegt die Schwelle, beruhigt er, erst bei 60 Jahren. Sie seien mehr von der kristallinen Intelligenz (das Erlernte, Erfahrene) abhängig.

Anja Förster und Peter Kreuz haben vor Kurzem das Buch „Hört auf zu arbeiten. Eine Anstiftung, das zu tun, was wirklich zählt“ veröffentlicht. Förster sagt: „Man muss erkennen, was das Herz schneller schlagen lässt, reflektieren, in sich hineinhören und dann mit den Talenten dorthin gehen, wo sie gewünscht und honoriert werden.“ Das ist nicht so einfach, denn obwohl wir längst aus dem Industriezeitalter raus sind, wurden die Arbeitssysteme nicht angepasst. Förster sagt: „Systeme haben eine unglaubliche Beharrungskraft. Es wird nichts geändert, solange es läuft.“ Arbeitgeber müssten beginnen, Mitarbeiter dabei zu fördern, ihre Talente auszubauen. Denn der Preis für die vorherrschende Trägheit ist hoch: Wir sind weniger innovativ, weniger wandlungsfähig. „Zu viele Menschen betrachten Arbeit als Tauschgeschäft: Arbeitskraft gegen Geld. Der Höhepunkt des Tages ist die Vorfreude aufs Heimgehen. In der Pension beginnt dann das wahre Leben. Das ist doch Wahnsinn.“ Die Lösung: Wenn jeder verstärkt dort eingesetzt wird, wo seine Begabung liegt, profitieren der Einzelne, die Firma und das System.

Thomas Sattelberger war bis Mitte 2012 Personalvorstand der Deutschen Telekom. Von Freidenkertum und Reformeifer gepackt, kritisiert er Wirtschaft und Manager.

KURIER: Mitte der 90er bezeichneten Sie Manager als „geföhnte Bubis und Barbies im Business-Look“. Ist das immer noch aktuell?

Thomas Sattelberger: Das hat sich eher verschärft. Ich beschäftige mich seit Mitte der 90er-Jahre mit dem Thema Klonen und Zerstörung von Talent und der Programmierung von Mentalität, der Normierung von Persönlichkeiten. Ich war ein einsamer Rufer in der Wüste.

Sie waren 40 Jahre lang Manager – bei Daimler, der Lufthansa, der deutschen Telekom. Wer macht in solchen Konzernen Karriere?

In solchen Systemen kann man durchaus „schräge“ Ansichten vertreten. Diese Chance nehmen nur viele Manager nicht wahr.

Wieso nicht?

Weil sie viel zu viel Angst vor der eigenen Courage haben. Die Freiheit ist oft größer, als man sich einbildet oder glaubt wahrnehmen zu können. Jeder hat seine Spielräume, nur die nützt man nicht oft genug. Aber sie können entscheiden, in welcher Firma sie arbeiten – wir reden hier von Führungskräften. Ich habe Daimler damals verlassen, weil mir Art und Stil der Unternehmensführung nicht gepasst hat. Ich dachte: „So geht es nicht weiter. Das ist der falsche Kurs.“

Manager rekrutieren gerne ihnen Ähnliche. Stimmt das?

Das ist so. Das führt zum Klonen von Managern. Mehr und mehr haben die gleiche Geisteshaltung, sind von den gleichen Methoden geprägt. Menschen lernen aus Erfahrungen und wenn man in Ja-Sager-Kulturen Kritik übt und eine auf den Deckel bekommt, wird man es nicht wiederholen. Man muss abwägen, wie viel man bereit ist zu zahlen – dafür, dass man die Glaubwürdigkeit behält.

Sind Hochschulabsolventen gut auf den Beruf vorbereitet?

Naja. Sie passen sich ja bestens an und passen bestens rein. Man muss sich die gesamte Kette von der Bildung bis zur karriereorientierten Sozialisation ansehen. Es bedarf mächtiger Systeme, um Realitäten zu ändern.

Wie könnte Führung aussehen?

Das Bild von Führung ist derzeit durch und durch ökonomisiert. Den betriebswirtschaftlichen Lehrstühlen und Business Schools steht eine drastische Reform bevor. Das zweite Thema ist, wer wird eigentlich befördert? Ist die Personalführung etwa im Stande gegen eine Verhaltenssau anzutreten?

Hat jeder Mensch eine Begabung?

Jeder. Manchmal ist sie groß, manchmal klein. Die Frage ist, ob Menschen auch Platz bekommen, eine kleinere Begabung leben zu können.

Wie sehr wird Diversity in Unternehmen eigentlich wirklich gelebt?

Unternehmen predigen wofür sie attackiert werden. Wie viele Migranten sind in österreichischen Unternehmen in Führungspositionen? Wie viele Frauen? Die Rhetorik ersetzt die Veränderung der Realität.