Mitternacht – und noch lange nicht Schluss
Von Nicole Thurn
„An viel und harter Arbeit erkrankt man nicht so leicht. Man wird davon (nur) müde.“ Fredmund Malik, Management-Experte
Mehr als 70 Stunden hatte Moritz E. angeblich durchgearbeitet. Der deutsche Praktikant wollte eine Anstellung bei der Londoner Investmentbank Merril Lynch. Am Ende lag er tot in der Dusche.
Vor einer Woche trat Josef Ackermann als Boss des Schweizer Versicherungskonzerns Zurich zurück, nachdem sein Finanzchef Pierre Wauthier Selbstmord verübt hatte – angeblich wegen zu viel Drucks im Job. Arbeiten bis zum Umfallen gehört in einigen Branchen nicht nur zum guten Ton. Es ist schier Pflicht, um voranzukommen. Zu den herausforderndsten Berufen gehören Arzt, Anwalt und Investmentbanker. Schon der Nachwuchs ist der hohen Dauerbelastung ausgesetzt, schon in der Ausbildung. Heiner Lumitz* arbeitete als Praktikant bei der Investmentbank Morgan Stanley in Frankfurt. In Spitzenzeiten saß er bis drei Uhr früh im Büro, vor 22 Uhr war nie Feierabend. Es hätte niemand verlangt, dass er so lange im Büro bleibt. „Jedem ist aber klar, dass man bis 22, 23 Uhr arbeitet. Man gewöhnt sich daran.“ Die Praktikanten würden einander sogar an Arbeitswut überbieten, so Lumitz: „Sie tun sich das an, weil sie eine Anstellung wollen.“ Eine Einstellung, die Moritz E. zum Verhängnis
wurde. Unbestritten ist: Wer in diesen Branchen Karriere machen will, muss besonders belastbar sein.
Mehr Druck
Als Verwertungsmaschinerien verschrien sind Großkanzleien, die Fluktuation ist unter den Konzipienten (Rechtsanwaltsanwärtern) höher als bei normalen Arbeitsverhältnissen. Hoher Arbeitseinsatz wird hier implizit vorausgesetzt. Christoph Brogyányi, Recruiting-Partner bei der Wirtschaftskanzlei Dorda Brugger Jordis räumt ein, dass Konzipienten keinen „Nine-to-Five“-Job haben. „Dass aber jeden Tag bis Mitternacht gearbeitet wird, ist ein wildes Gerücht“, meint er. „Wer seine Zeit gut einteilt, kann locker um halb acht nach Hause gehen“, wer das nicht schaffe, eben später. Der Druck auf die Mitarbeiter habe in Zeiten des eMails allerdings deutlich zugenommen: „Die Zeitvorgaben sind enger, man muss flexibel auf die Anforderungen reagieren.“
In der Ausbildung würden die Konzipienten lernen, unter Druck Nerven zu bewahren – ein Vorteil für später, denn als Anwalt oder in der Rechtsabteilung eines Konzerns wächst das Arbeitspensum weiter an. Überraschend sei das für die Jobanwärter nicht: Die Konzipienten wüssten, worauf sie sich einlassen, sagt Brogyányi, der die Bewerbungsgespräche führt. Auch bei der Großkanzlei Wolf Theiss sei eine 70-Stunden-Woche für Konzipienten nicht die Regel, sagt Pressesprecherin Veronika Schrefel: „Etwaige Spitzen gleichen wir in ruhigeren Zeiten aus.“
Nicht nur angehende Anwälte, auch Turnusärzte arbeiten bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Verena Eckmayr absolviert gerade eine Facharztausbildung zur Gynäkologin bei den Barmherzigen Brüdern in Linz. Die 30-Jährige arbeitet 60 bis 72 Stunden in der Woche, hat sechs Nachtdienste im Monat, an zwei Wochenenden im Monat arbeitet sie 48 Stunden. „Macht man an den Wochenenden Fortbildungen, kann es sein, dass man nur eines in zwei Monaten frei hat“, sagt sie. Auch der Job selbst ist belastend: Notkaiserschnitte, mehrere gebärende Frauen gleichzeitig, Fehlgeburten in der Nacht. Besonders belastend sei: „Man weiß nie, wie der Dienst aussehen wird, bei uns kann in jedem Moment alles passieren.“
Sinn macht belastbar
Doch was treibt Verena Eckmayr an? Braucht es die Sucht, die „pervertierte Liebe zur Arbeit“, wie schon Romancier Gustave Flaubert 1852 schrieb? Auch wenn ihr nicht bewusst war, worauf sie sich einlässt, so Eckmayr: „Ich wollte immer Gutes tun, der Job ist schön, er gibt mir Sinn.“ Und das ist es in erster Linie, was Menschen widerstandsfähig im Beruf macht.
Resilienz nennt das die Wissenschaft. Belastbare Menschen erledigen ihre Arbeit mit großer Gewissenhaftigkeit, sind neugieriger und emotional stabiler, ergab eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung und der Unternehmensberatung von Denis Mourlane. Demzufolge seien Führungskräfte widerstandsfähiger als ihre Mitarbeiter. Sie könnten ihre Emotionen besser steuern, seien disziplinierter, empathischer, zielorientierter und glaubten häufiger an ihre Fähigkeiten. Weiteres Fazit: Führungskräfte können die Resilienz ihrer Mitarbeiter steigern. Indem sie ihnen Kontrolle über ihre Aufgaben verleihen und ihnen Orientierung geben.
Doch auch die Resilienz hat ihre Grenzen. Am Ende der Widerstandsfähigkeit greifen die Vielarbeiter nicht selten zu Muntermachern – legal zu Energydrinks, Koffeintabletten und Ritalin, illegal zu Kokain und Speed. Laut einer Studie der deutschen Krankenversicherung AOK nahmen fünf Prozent der Arbeitnehmer in den vergangenen zwölf Monaten Medikamente, um ihre Leistung im Job zu steigern. Bei den unter 30-Jährigen waren es sogar zwölf Prozent.
Spätestens dann hat Management-Experte Fredmund Malik mit seinem Zitat unrecht.
*Name von der Redaktion geändert
KURIER: Wieso schaffen die einen eine 80-Stunden-Woche problemlos und andere nicht?
Denis Mourlane: Widerstandsfähige Menschen sehen einen Sinn in ihrer Arbeit, wollen Mehrwert bringen, können sich in kurzer Zeit erholen. Sie glauben an sich und bleiben gelassen, geben nicht auf, suchen Wege, um die Dinge zu ändern. Jemand, der an sich zweifelt, verbraucht deutlich mehr Ressourcen.
Mit welchen Themen kommen die Jungen zu Ihnen?
Meist geht es um neue Drucksituationen: Als Führungskraft müssen sie mit Druck von oben und unten umgehen.
Inwiefern ist Resilienz erlernbar, was ist angeboren?
Wir haben unsere Klienten ein Jahr nach dem Training befragt – und es ging ihnen besser als zuvor. Resilienz ist also erlernbar. Die Forschung vermutet auch genetische Faktoren. Ich gehe davon aus, dass der Mensch sich verbessern kann.
Wie kann man an seiner Widerstandsfähigkeit arbeiten?
Es gibt zwei Ansätze: Verlassen Sie die Komfortzone. Das bewirkt zwar erst mal Angst. Wenn man es aber immer wieder tut, geht die Angst verloren, das Selbstvertrauen steigt. Zweitens: Hinterfragen Sie Ihre Haltung. Glaubenssätze wie „Ich muss es allen recht machen, muss perfekt sein, bin nicht gut genug“ rauben viel Energie. Es ist wichtig, auf Erfolge zu fokussieren, nicht nur darauf, was schiefgehen kann.
Sie sagen, widerstandsfähig ist, wer seine Emotionen steuert.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen zwei Stunden im Stau. Sie können sich zwei Stunden lang ärgern. Resiliente Menschen ärgern sich kurz, nutzen dann die Zeit effektiv, bereiten sich aufs Meeting vor. Resiliente Menschen haben den unbändigen Willen, dass es ihnen gut geht. Und sie tun etwas dafür. Die Opferrolle ist das Gegenteil.
1. Emotionssteuerung: Resiliente Menschen nehmen negative Emotionen wahr und sorgen dafür, dass es ihnen emotional trotzdem gut geht.
2. Impulskontrolle: Ablenken lassen , Verschieberitis – das gibt es bei ihnen nicht. Sie bleiben mit Disziplin auf ihre Aufgabe fokussiert.
3. Kausalanalyse: Ob Ärger, Wut, Angst: Resiliente Menschen erkennt die Ursache für negative Emotionen. Und finden Lösungen, um sie zu vermeiden.
4. Empathie: Wer sich in andere hineinversetzen kann, muss sich in schwierigen Situationen weniger ärgern, agiert und reagiert mit klarem Kopf.
5. Realistischer Optimismus: Resiliente Menschen sagen „Yes, we can!“ statt „Hättiwaritäti“. Und schauen dabei der Realität ins Auge. 6. Zielorientierung: Sie verfolgen Ziele mit Disziplin, egal, was andere sagen.
7. Überzeugt von Selbstwirksamkeit: Sie glauben, dass sie ihr Schicksal in der Hand haben – und Dinge verändern können. (Denis Mourlane: „Resilienz“)