Wirtschaft/Karriere

„Entscheider sollen das Risiko tragen“

KURIER: Frau Tremel, Sie forschen zum Thema Privilegien. Welche gibt es in Unternehmen?

Luise Tremel: Verantwortung zu haben – also zu führen – ist schon ein Privileg an sich: Wenige Leute legen fest, was viele Leute tun. Aber auch die Tätigkeit selbst und der damit verbundene Status sind Privilegien, ebenso die finanzielle Abgeltung.

Wenn Führung neu strukturiert wird, werden Privilegien oft abgebaut. Was ist dabei zu beachten?

Für erfolgreiche Veränderungsprozesse in Unternehmen reicht es nicht aus, Hierarchie und Privilegien abschaffen zu wollen. Bei einer Entwicklung zu agiler Führung muss man sich vor allem damit auseinandersetzen, wohin es gehen soll: Wie das Privileg der Entscheidungshoheit und auch die damit verknüpften Belastungen in Zukunft verteilt werden sollen. Wichtig bleibt aber in jedem Fall, dass Verantwortung honoriert wird. Es muss auch nach einer Umverteilung der Privilegien Anreize dafür geben, Verantwortung zu übernehmen.

Was ist die größte Herausforderung dabei?

Das Führen wird komplexer. Es muss geklärt werden: Wer entscheidet und wer trägt die Konsequenzen – positive wie negative? Wenn die Hierarchie wegfällt, müssen Entscheidungsprozesse auch stärker formalisiert werden, damit klar ist, wer überhaupt entscheiden darf – und auf welcher Grundlage. Das neue agile Führungsteam muss mehr Argumente hören, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Viele Entscheidungen werden auch auf untere Ebenen – also zur einzelnen Person hin – ausgelagert.

Gibt es bereits Unternehmen, die diesen Transformationsprozess abgeschlossen haben?

Ja, das deutsche Start-up Einhorn, das vegane Kondome herstellt und die Agentur Wigwam, die als Genossenschaft strukturiert ist. Bei Wigwam gibt es einen gewählten Vorstand und Aufsichtsrat, aber jede Person trägt Verantwortung.

Entscheidungsprozesse sollen demokratischer ablaufen, wie genau funktioniert das in der Praxis?

Führungskräfte motivieren eher, als dass sie Festlegungen treffen. Bei Entscheidungen, die viele betreffen, geht es darum, die Mitentscheider zu überzeugen. Es werden viele Meinungen angehört, und wenn nötig, wird darüber abgestimmt. Bei diesem Prozess geht es darum, das Wissen so gut wie möglich abzuholen. Am Ende wird es aber meistens eine Person geben, die entscheidet.

Wenn Verantwortung nicht nur Sache der immer noch vorwiegend männlichen Führungsriege ist, sondern auf viele Mitarbeiter aufgeteilt wird, werden dann auch mehr qualifizierte Frauen Verantwortung übernehmen? Ist das ein positiver Nebeneffekt?

Ja, definitiv! Insbesondere, weil die neue Führung mit Abwägung, Anhören, Vermitteln, Unterstützen zu tun hat, und darin sind Frauen – qua Erziehung, wenn nicht sogar qua Veranlagung – qualifizierter und erfahrener.

Wie sollen sich agile Unternehmen in Zukunft organisieren, damit so eine geteilte Führung möglich ist?

Das kann zum Beispiel eine Genossenschaft sein mit den Mitarbeitern als Anteilnehmer, aber auch eine Stiftung oder eine gemeinnützige GmbH. Derzeit ist es so, dass es Leute gibt, die Anteile haben, es sind aber nicht dieselben, die entscheiden. Ich halte aber eine Verknüpfung für sinnvoll. Der Entscheider soll auch das Risiko tragen.

Die Deutsche Luise Temel forscht zu agilen Organisationen

Luise Tremel, 35, ist Transformationsforscherin und Unternehmerin. Sie forscht im Bereich langfristiger gesellschaftlicher Veränderungsprozesse am Norbert Elias Center for Transformation Design and Research der Europa-Universität Flensburg, Deutschland. Außerdem ist Tremel Co-Geschäftsführerin des Start-ups INJU, wo sie aktuell daran arbeitet, eine Kultur der geteilten Verantwortung in der Unternehmensform zu verankern. Tremel wird beim Wiener Leadership-Kongress am 27. und 28. Februar über Erkenntnisse zum Thema Deprivilegierungsprozesse sprechen. www.wienerleadershipkongress.at