Eines Tages, Baby, musst du dich entscheiden
Von Andrea Hlinka
Was, wenn wirklich alles möglich ist? Wenn man studieren kann, was man will, wo man will. Wenn man wählen kann zwischen FH und Uni, Wirtschaftswissenschaften und Internationalem Management. Zwischen ehrenamtlicher Arbeit in einem Waisenhaus in Bangladesch und einem Praktikum in einer Anwaltskanzlei. Zwischen Monogamie und freier Liebe.
Entscheidungen treffen ist nicht einfach. Vielleicht ist es sogar viel schwieriger als früher. Das Kind eines Schusters wurde Schuster. Das war allen klar – dem Kind, den Eltern, dem Lehrer und dem Pfarrer. Und heute? "Du kannst werden, was du willst, kannst alles schaffen", wird Kindern beigebracht. Das gibt fast unendliche Freiheit. Doch wie geht man damit um? Mit der Freiheit, die auch Risiko bedeutet und die vielen Fehlermöglichkeiten in sich trägt? "Fehler? Risiko? Ich? Lieber nicht." Wir haben die größtmögliche Freiheit und wissen sie nicht zu nutzen, treten stattdessen lieber verunsichert auf der Stelle.
Einer ganzen Generation wird dieser Mangel an Risikomut nachgesagt. "Unser Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft uns auf, unser Dopamin das spar’n wir immer falls wir’s nochmal brauchen, und wir sind jung und haben viel Zeit, warum soll’n wir was riskier’n? Wir woll’n doch keine Fehler machen, woll’n doch nichts verlieren", reimt Poetry Slammerin Julia Engelmann.
Die Generation Maybe, so wurde sie von einem benannt, der selbst dazu gehört: Oliver Jeges, 1982 in Österreich geboren, Journalist und Buchautor. In einem Artikel in der Tageszeitung Die Welt schrieb er 2012 über seine Generation, über "die Abwarter, die Unentschlossenen, die Zögerer und Zauderer." Und: "Es sind der Möglichkeiten zu viele, so scheint es. Wir haben vergessen, wie man Entscheidungen trifft." Kann es sein, dass diese Generation tatsächlich überrumpelt wurde vom "postmodernen Anything goes"?
Dabei wäre Orientierung durchaus leicht zu bekommen: "Die Jungen", sagt Gerhard Roth, ein bedeutender Hirnforscher, "wollen Rat, aber sie zögern, ihn einzuholen, denn es ist nicht schick. Und Eltern hüten sich wiederum, Rat zu geben."
Vielleicht liegt die Zurückhaltung im grundlegenden Sprachproblem der Generationen: Wie soll jemand dabei helfen das jugendliche Profil zu schärfen, der selbst kein eigenes auf Facebook hat? Der nicht aufgewachsen ist, mit Tablet, Terabyte und Twitter. Der Vorwurf der Kinder an die Eltern "Du hast ja keine Ahnung" trifft heute voll ins Schwarze.
So oder so
Da kann es helfen zu wissen, wie Entscheidungen gefällt werden. Eben das erforscht Gerhard Roth seit Jahren: "Wir glauben, dass wir auf rationale Weise Entscheidungen treffen. Nachdenken, Vor- und Nachteile abwägen, andere Möglichkeiten durchdenken und dann die beste Wahl treffen. Doch so ist das nicht." Die einzige Entscheidung, die wir tatsächlich laufend bewusst treffen ist: Fangen wir an oder lassen wir es bleiben.
Roth unterscheidet drei Arten von Entscheidungen. 1: Die unbewussten und automatischen, die lange eingeübt wurden – wie Autofahren oder ein Instrument spielen. 2: Die affektiven Entscheidungen, die schnell sind und spontan. Weil nicht nachgedacht wird. So steigt man beim Blinken der Ampel schnell noch aufs Gas, bevor das Rot es streng verbietet. 3: Die rationalen Entscheidungen, die jedoch laut Wissenschaft nur in den seltensten Fällen möglich sind. Die nur dann gelingen, wenn Zeit ist und die Möglichkeiten überschaubar. Die Rationalität spielt bei Entscheidungen natürlich eine Rolle, aber die Grundgefühle eine noch viel größere: "Komplizierte Entscheidungen sind intuitiv und emotional und das ist auch gut so. Denn diese emotionalen Entscheidungen kommen aus der Persönlichkeit und die passen dann" , sagt Roth. Habe Mut zu sein wer du bist – lautet der Aufruf.
Schritt 1: Befreie dich
Entscheidungen sind stark geprägt von Erfahrungen, Sozialisation, Faustregeln, von Glaubenssätzen, Ängsten, von Vorurteilen. "Die großen Lebensentscheidungen sind zutiefst von unserer Herkunft und frühkindlichen Prägung gesteuert. Wer aus einem akademischen Haushalt kommt, wird mit dem Gedanken schon groß später mal zu studieren", erklärt Roth. Tatsächlich: Arztkinder studieren überdurchschnittlich häufig Medizin. Mit dem Beruf der Eltern ist man vertrauter als mit anderen. Um den eigenen Weg zu finden, muss man wissen, von wem die Fußabdrücke stammen.
Schritt 2: Halb so schlimm
1943 sagte der IBM-Vorsitzende Thomas Watson: "Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt." Es kam anders. Irrtümer pflastern die Geschichte der Menschheit. Keiner kann mit Sicherheit sagen was kommt. Auch nicht, dass das Jus-Studium oder das Kunststudium das Hirn dann auch tatsächlich mit Dopamin befüllt. 40,6 Prozent der Bachelorstudien, die im Wintersemester 2010/11 an österreichischen Unis gestartet wurden, werden nach drei Semestern nicht mehr betrieben. Gründe dafür gibt es viele: Zu wenige Informationen zu diesen Studien, zu viel Druck bei der Entscheidungsfindung und falsche Erwartungen bei den Studierenden. Gerhard Roth sagt, dass man sich von möglichen Fehlern nicht abschrecken lassen darf. "Man sollte dazu stehen und auch riskieren. Aber niemals eine Entscheidung treffen, die irreversibel ist. Zudem sollte man Alternativen haben."
Schritt 3: Volles Risiko
"In der besten aller Welten sollten alle Dinge gewiss sein, absolut gewiss und sicher", schreibt Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut in Berlin und einer der meistzitierten deutschsprachigen Psychologen. Vor einem Jahr hat er das Buch Risiko. Wie man richtige Entscheidungen trifft geschrieben, ein Plädoyer für Risikokompetenz und Bauchgefühl. Was wäre, wenn das Leben tatsächlich planbar und vorhersehbare wäre? "Der erste Kuss, der erste Heiratsantrag, die Geburt eines gesunden Kindes wären so aufregend wie der Wetterbericht des vergangenen Jahres. Sollte unsere Welt jemals gewiss werden, wäre unser Leben todlangweilig", sagt er. Sicherheit und Gewissheit – die gibt es nicht. Also muss man tun und mit der Möglichkeit der Fehler und dem Risiko leben. Das einzige womit die Psyche wirklich schwer zu kämpfen hat, ist eine verpasste Chance. Nichts bereut man im Leben mehr, als eine nicht getroffene Entscheidung.
So, sagt Gerhard Roth, könnte es klappen, eine wichtige Entscheidung richtig zu treffen: Nachdenken – in Ruhe und in Abwesenheit von Stress. Aussortieren. Rat und Expertise einholen. Und am Wichtigsten: Die Gedanken ruhen lassen. Während dieser Zeit macht das Gehirn keine Pause, im Gegenteil: Hier kann es komplex arbeiten. Die Belohnung: Gereifte Entscheidungen. Und die sind, sagt Roth, die allerbesten.
Zwanzig Minuten vor Beginn war der Elise-Richter-Saal an der Universität Wien bis auf den letzten Platz gefüllt. Überfüllt. Vor der Tür drängten die Studierenden, sie wollten Poetry Slammerin Julia Engelmann und KURIER-Chefredakteur Helmut Brandstätter hören. Sie: 22 Jahre, Generation Y, Studentin der Psychologie, Poetin mit sieben Millionen Fans auf YouTube. Er: 59 Jahre, Babyboomer, promovierter Jurist, Chefredakteur mit 550.000 Lesern im Wochenschnitt.
„Lass uns alles tun, weil wir können und nicht müssen“, sagt Poetry Slammerin Julia Engelmann in ihrem bekanntesten Gedicht „One Day, Baby“. Die 22-jährige Bremerin ist derzeit von ihrem Studium beurlaubt, weil sie schreibt und von einer Bühne zur anderen reist. Ihr Zugang zu Karriere und den Zielen im Leben ist verhalten. Sie will sehen, was sich ergibt, aber tun, ein gutes Leben führen, wie immer das im Detail aussieht. Helmut Brandstätter beruhigte, dass ihm ein durchgestylter Lebenslauf nicht imponiere, sondern viel mehr, was ein Mensch auf die Beine gestellt hat. Die Studierenden sollten ihre Möglichkeiten nützen, die offene Welt bereisen, grenzüberschreitend denken. Auf die Interviews folgten Engelmanns Gedichte – die Worte und der Rhythmus der Generation Y, „... lass uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehn wie sie zu Boden reisen und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind.“