Drei Karrieren in einem Leben
Von Nicole Thurn
„Die Sache mit der Pille... da war ich 28 Jahre alt... – und noch immer ist das die erste Frage der Journalisten,“ seufzt Carl Djerassi. „Als hätte ich die vergangenen 60 Jahre rumgesessen und Daumen gedreht.“ Gut, dass man die Frage gerade noch unterdrückt hat. Der elegante Herr mit schlohweißem Haar deutet auf die Unterlagen am Tisch. Ein Verlagsprospekt zu seiner Autobiografie „Der Schattensammler“, die im Herbst zu seinem 90er erscheinen wird. Eine Briefmarke ist ist darauf abgebildet, mit Djerassis Porträt und der Aufschrift „Chemiker/Romancier“. „Romancier...“, sagt er und seine Augen leuchten – „das hat mich sehr gefreut.“
Das und die Tatsache, dass der Miterfinder der Pille – „ich hasse das Wort Anti-Baby-Pille, gegen Babys, das ist ja furchtbar“ – dieser Tage zwei Ehrendoktorate erhält. Am vergangenen Mittwoch eines von der Universität für angewandte Kunst in Wien, das andere nächste Woche von der Sigmund-Freud-Privatuniversität.
„Beide haben nichts mit meinen Leistungen in der Chemie zu tun“, freut er sich. Denn die Reduktion auf die Chemie würde ihm nicht gerecht werden, schließlich blickt Djerassi auf gleich drei Karrieren zurück. Der international renommierte Chemiker – er nennt sich „Mutter der Pille“ – ist seit vielen Jahren Kunstsammler, liebt die Werke von Paul Klee, Picasso. Nach dem Selbstmord seiner Tochter, einer Künstlerin, gründete er bei San Francisco eine Künstlerkolonie. Mehr als tausend Künstler – „Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Tänzer“ – hat er dort beherbergt. Und im Alter von 60 Jahren hat er seine dritte Karriere als Literat gestartet.
Djerassi bezeichnet sich als Feminist, „ohne Frage“. In Wien wuchs er mit Großmutter und Mutter (geschieden) auf, die als Zahnärztin arbeitete, eine Köchin hatte. „Ich war daran gewöhnt, dass Frauen eine professionelle Arbeit haben“, sagt er. 1939 flüchtete er mit der Mutter vor dem Naziregime in die USA, schrieb als 16-Jähriger an First Lady Eleanor Roosevelt mit der Bitte um ein Stipendium fürs College. „Das war naiv, aber sie war für mich eine Königin“, sagt er. Die Naivität machte sich bezahlt: Er bekam das Stipendium, absolvierte das vierjährige College in zwei Jahren – „im Krieg gab es auch im Sommer Kurse“ – musste wegen seines schlechten Beins nicht in die Armee, arbeitete ein Jahr in der Pharmafirma Ciba, wollte aber, wie seine Eltern, Arzt werden. Doch er erhielt ein Stipendium für das Doktorat in Chemie. Der Rest ist Geschichte.
Dem 28-Jährigen gelang mit seiner Forschergruppe in der Firma Syntex 1951 die Synthetisierung des Schwangerschaftshormons Gestagen, der Schritt zur Verhütungspille war getan. Seine Karriere bezeichnet Djerassi als „Chemist turned Writer“: Mit 60 schrieb er seinen ersten Roman, „aus Rache“, da seine Lebensgefährtin, eine Literaturwissenschafterin, ihn verlassen hatte. Das Manuskript blieb in der Schublade, doch sie heiratete ihn. Djerassi begründete das Genre „Science-in-Fiction“, schreibt über die Wissenschaftsszene, über Neid und Betrug. Fünf Romane hat er seit 1989 veröffentlicht, elf Theaterstücke geschrieben. Immer wieder kommt er auf seine Werke zu sprechen, darauf, dass sie in London, New York uraufgeführt werden – „aber niemals in Wien, das irritiert mich sehr.“
KURIER: Herr Djerassi, auch wenn Sie das Thema nicht mehr hören wollen: Konnten Sie 1951 die Folgen Ihrer Entdeckung abschätzen?
Carl Djerassi: In keinster Weise. Verhütung hat die Pharmaindustrie damals überhaupt nicht interessiert. Ihr ging es um Reproduktion. Die Menschen wollten viele Kinder. Als die Pille zehn Jahre später auf den Markt kam, wurde sie in drei Jahren an zwei Millionen Frauen verkauft. Das war die Hippiezeit.
Sie haben zig Millionen Frauen befreit. Was ist das für ein Gefühl?
Ach. Noch immer kommen Frauen zu mir, küssen mich auf die Wange und sagen Danke.
Wie arbeiten Sie heute?
Ich schreibe jeden Tag, sieben Tage die Woche. Ich war immer Workaholic, das habe ich ins Schreiben mitgenommen. Und ich habe nicht mehr viel Zeit.
Was gibt Ihnen das Schreiben?
Ich kann meine Erlebnisse veröffentlichen, ohne dass es jemand weiß. Ich habe ein Buch über meine Liebhaberinnen geschrieben, viele leben noch.
Ihr Ausgleich?
Ich gehe sehr gern in die Oper, ins Theater. Und ich reise viel – zu meinen Uraufführungen und Vorträgen.
Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken, was sagen Sie?
Ich hätte nicht immer 101 Prozent geben müssen, 93 Prozent hätten auch gereicht. Dann hätte ich mehr Zeit für andere Dinge gehabt.
Am 29. Oktober 1923 als Sohn eines jüdischen bulgarischen Dermatologen und einer jüdischen Wiener Zahnärztin geboren, flüchtete Carl Djerassi 1939 mit seiner Mutter in die USA. Er promovierte in Chemie, arbeitet beim Pharmakonzern Ciba, dann bei Syntex in Mexiko als stellvertretender Forschungsdirektor. Dort gelang ihm 1951 die Synthese von Norethindron, das die Basis für die „Pille“ in den 1960ern war. Seit 1959 lehrt er an der Stanford University. In seiner Laufbahn verfasste er über 1200 Publikationen. Djerassi erhielt die wichtigsten Auszeichnungen seiner Zunft, ist in der „Inventors Hall of Fame“.
Literatur Als Schriftsteller begründete Djerassi das Genre „Science-in-Fiction“. Er hat seit 1989 fünf Romane (u. a. „Cantors Dilemma“, „Menachems Same“) und elf Theaterstücke („Killerblumen“, „Oxygen“ „Phallstricke“) geschrieben.