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Ländliche Moderne: Es lebe das Dorf!

Australien oder Austria? Das war für Yvonne O‘Shannassy die entscheidende Frage. O‘Shannassy arbeitete viele Jahre auf Privatyachten und lernte auf hoher See ihren heutigen Ehemann Brendan, einen gebürtigen Australier, kennen. Nach der Geburt ihrer beiden Töchter und vielen Jahren auf Reisen wollte sich die Jungfamilie niederlassen. Zuerst lebten die O‘Shannassys eine Zeit lang in Australien. Schließlich fiel die Wahl auf die 940-Seelen-Gemeinde Hinterstoder am Fuße des Toten Gebirge im südlichen Oberösterreich, Yvonne O‘Shannassys Heimatort. „Die Lebensqualität ist enorm hoch hier,“ sagt sie.

Vor drei Jahren eröffnete O‘Shannassy im Ortszentrum ein kleines Café mit Weinbar namens „Fleischerei“, ein paar Schritte von der Talstation der Höss-Bahn. Bei Baileys-Schokotorte und dem „besten Kaffee westlich von Wien“, wie sie augenzwinkernd sagt, fühlen sich Besucher eher wie in Wien-Neubau als in der tiefen Provinz. Schon Bundespräsident Alexander Van der Bellen war in der „Fleischerei“ zu Gast. „Heute helfen wir anderen Zugezogenen, dass sie gut im Ort ankommen“, sagt O‘Shannassy.

Geschichten wie jene der zurückgekehrten Yvonne O‘Shannassy werden in Hinterstoder gerne erzählt. Etwa von Angelika Diesenreiter. Sie war Vizebürgermeisterin und ist derzeit Kulturreferentin. Mit anderen Einheimischen setzte sie sich viele Jahre dafür ein, dass dem Ort nicht das gleiche Schicksal widerfährt wie so vielen anderen kleinen Gemeinden: die Ausweglosigkeit aus der Abwärtsspirale von Abwanderung, infrastruktureller Ausdünnung und Verödung. „Die Jahre, in denen die Volksschule plötzlich nur mehr eine einzige Klasse hatte und eingesessene Tourismusbetriebe keinen Nachfolger fanden, waren wirklich schlimm“, sagt sie.

Wenn Angelika Diesenreiter heute gemütlich auf der Bank vor der „Fleischerei“ sitzt , Kaffee trinkt und vorbeikommende Radfahrer freundlich grüßt, dann wirken die Erinnerungen wie aus einer anderen Zeit. Hinterstoder 2018 ist kein Ort der Tristesse, sondern ein Ort der Lebendigkeit: Es gibt zwei Lebensmittelgeschäfte, mehrere Gastronomiebetriebe und ein Sportgeschäft, das die neusten Wanderrucksäcke hübsch in der Auslage drapiert hat. Zwischen damals und heute liegen tausende Stunden an Sitzungen, handwerklicher Arbeit und – natürlich – mühsamen Diskussionen.

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Und immer ist da die Möglichkeit, dass dieser positiven Entwicklung irgendetwas dazwischen kommt. Wie dieser Tage. Wie ein großes Investorenprojekt, das die Anstrengungen der Bürger zunichte machen könnte. Dazu später.

Im Herbst, wenn die Volksschule wieder mit mehreren Klassen das Schuljahr beginnt, erhält Hinterstoder den renommierten „Europäischen Dorferneuerungspreis“. Der Ort ist mittlerweile für viele andere Gemeinden zum Vorbild geworden. Der seit 1991 amtierende Bürgermeister Helmut Wallner (ÖVP) sagt: „Unser Ziel ist und war es immer, dass sich die Leute in Hinterstoder wohlfühlen und die Einwohnerzahl steigt.“ Das ist gelungen: Die Hauptwohnsitze haben zugenommen. Als Erfolg würde schon durchgehen, wenn sie stagnieren würden.

Doch was genau hat Hinterstoder anders gemacht als andere?

Wer heute nach Hinterstoder kommt, ist zunächst von der Bergkulisse und der frischen Luft überwältigt. Der Ort ist geografisch etwas abgelegen im Talschluss situiert – die Landeshauptstadt Linz ist mit dem Auto in etwa einer Stunde zu erreichen. Auf den zweiten Blick ist sofort ersichtlich, dass Hinterstoder etwas hat, was für Dörfer überlebensnotwendig ist: Arbeitsplätze, und zwar durch den Tourismus. Gleich am Beginn des Skiweltcup-Orts liegt der gigantische Parkplatz der Seilbahngesellschaft. An Spitzentagen werden bis zu 7500 Menschen von hier aus auf die Höss kutschiert.

Doch die Jobs alleine machen den Unterschied wohl nicht aus. „Jeder Ort steht im Wettbewerb mit anderen Orten um Zuzug, Aufmerksamkeit, Gäste und um hohe Lebensqualität“, sagt Roland Gruber von nonconform, eines auf Ortsentwicklung und Partizipation spezialisierten Architekturbüros. „Um zu überleben, müssen Gemeinden Visionen entwickeln, diese umsetzen und sich dadurch positionieren.“

Wenn Angelika Diesenreiter Besucher durch das Ortszentrum führt, dann beginnt sie gerne mit den neuen, modernen Bauten, die sich so geschmeidig ins Ortsbild einfügen, als wären sie schon immer da gewesen. Wie etwa das Museum „Alpineum“, das der Geschichte des Skilaufs und der lebensgefährlichen Arbeit der Holzknechte am Berg nachspürt. Das Gebäude wurde 1998 eröffnet und stand schon einmal mit dem „Guggenheim-Museum“ in Bilbao auf einer Shortlist der besten Museumsbauten.

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Ein paar Schritte weiter, vorbei an der Konditorei, befindet sich das „Haus der Vereine“, die neue Unterkunft der Trachtenmusikkapelle und des Bergrettungsdiensts. Diesenreiter: „Die Vereine waren in der Planung miteingebunden. Durch die Architektur ist ein neues Bewusstsein für unseren Ort entstanden.“ Gegenüber liegt die Höss-Halle, ein multifunktionaler Veranstaltungssaal, den das Linzer Architekturbüro Riepl & Riepl mit Beteiligung der Bevölkerung geplant hat. Darin tagt gerade der „Landinger Sommer“, eine Art überregionale, jährliche Sommerakademie zu den Themen Raum- und Dorfentwicklung. Architekten, Raumplaner und Experten aus ganz Österreich sind zu Gast.

An die 30 größere Projekte wurden in den vergangenen zwanzig Jahren in Hinterstoder realisiert: eine neue Straßenbeleuchtung, die Sanierung des Gemeindeamts, ein öffentliches Verkehrsnetz, der Ausbau der Wanderwege oder ein temporärer Künstler-Container oben am Berg. Die vielen Initiativen konnten teilweise nur durchgeführt werden, weil die Bevölkerung in der Planung der Projekte und Bauwerke eingebunden war, selbst oft Hand anlegte. „Beim Wanderwegeprojekt etwa kamen zu den Sitzungen oft 50 Leute. Sie brachten Ideen und konkrete Routen ein,“ sagt Diesenreiter.

Modelle der Bürgerbeteiligung und die starken Beziehungen unter den Einwohnern sind für den Zukunftsforscher Matthias Horx, der innovative Orte am Land gerne als „progressive Provinz“ bezeichnet, der Kern der modernen Dorfentwicklung. „Kleinstädte, Dörfer und Regionen können sich selbst neu erfinden, wenn sie ihre sozialen Potenziale heben: Der Standortvorteil gegenüber der Großstadt ist die kooperative Empathie“, schreibt Horx.

Dabei begann die „Dorferneuerung“ in Hinterstoder gar nicht so friktionsfrei: Wie viele andere Gemeinden startete der Ort mit einer „Ortsbildverschönerung“. „Wir wollten eigentlich nur die 300 Meter lange Hauptstraße erneuern“, erinnert sich die 66-jährige Diesenreiter. Das war Anfang der 90er Jahre. Die Tieferlegung der Straße sollte aufgehoben werden.

Aus dem Projekt wurde mehr: während der Planung fiel den Verantwortlichen auf, wie „tot“ der Straßenzug, sprich der Ortskern, war. Meterhohe Thujen versteckten die Hauseingänge und die Straße bot Fußgängern kaum Platz. Diesenreiter: „Wir machten die Straße zum shared space und legten damit den Grundstein zu einem lebendigen Ortskern.“

Außerdem wurden Anrainer mit sanftem Druck dazu bewegt, ihre Räume hin zur Straße zu öffnen und von Pflanzen und Mauern zu befreien. Diesenreiter: „Die Aufregung unter der Bevölkerung war damals wahnsinnig groß.“

Es hat sich bezahlt gemacht: Heute sind alle wichtigen Einrichtungen fußläufig im Ortszentrum.

Das nächste größere Projekt ist bereits sichtbar: Das alte Feuerwehrhaus wird zu einem „Co-Housing“-Wohnhaus mit acht Einheiten und mehreren Gemeinschaftsflächen für Jung und Alt umgebaut. „Derzeit denken wir auch darüber nach, wie der Leerstand in wenig genutzten Ferienhäusern verringert werden kann. Eine Möglichkeit wäre eine Art Vermietungs-Plattform,“ so Vizebürgermeister Klaus Aitzetmüller.

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Zu „Dorfentwicklung“ ist jede österreichische Gemeinde verpflichtet. Doch meistens verschwinden die Konzepte rasch wieder in der Schublade. Nicht so in Hinterstoder: Die Verantwortlichen denken gemeinsam mit den Bürgern alle zehn Jahre über eine Vision nach, zuletzt entstand daraus „Hinterstoder 2020“. Die Vision wird in Hinterstoder nicht als einmalige Aufgabe verstanden, die man abhakt, wenn sie niedergeschrieben ist. Mindestens einmal im Jahr treffen sich die Verantwortlichen, um den Stand der Projekte zu besprechen und über Neuigkeiten zu berichten. Bürgermeister Helmut Wallner: „Es ist ein kontinuierlicher Arbeitsprozess, der nie zu Ende geht, weil immer neue Herausforderungen warten.“

Eine dieser Herausforderungen ist die Erneuerung der Seilbahn. Die Bergbahngesellschaft, die im Mehrheitseigentum der Schröcksnadel-Gruppe steht, will die Kapazität der Zubringerbahn 2022 auf eine Zehner-Kabine erhöhen. Im Zuge des Ausbaus könnte die Talstation vom Ortszentrum gleich zum Parkplatz außerhalb verlegt werden.

Der Neubau soll, so die Überlegung, ein multifunktionales Gebäude mit Geschäften und Gastronomie werden. Skifahrer würden sich dadurch den kurzen Fußmarsch zur jetzigen Talstation im Ortszentrum sparen.

Doch die Bürger fürchten, dass eine mögliche Verlegung der Talstation für den jetzt so florierenden Ortskern dramatisch wäre. Die Skigäste würden dann nämlich ihre Besorgungen in der neuen Talstation machen und direkt den Berg hinauf fahren – den Ort Hinterstoder würden sie gar nicht zu Gesicht bekommen: die gemütliche Hausbank von Yvonne O‘Shannassys „Fleischerei“ etwa oder die Auslage des Sporthändlers. Die Arbeit der vergangenen Jahrzehnte stünde auf dem Spiel.

Mit dieser Aussicht geben sich die Hinterstoderer aber nicht zufrieden. Bürgermeister Wallner: „Wir arbeiten daran, den Bergbahnen einen Gegenvorschlag vorzulegen.“

Auch das muss Dorfentwicklung können: Den Bürgern Raum zum Agieren verschaffen, um angesichts wirtschaftlicher Interessen nicht mit dem Rücken an der Wand zu stehen.