Einblick in das Azw-Sammlungsdepot: Eine Geschichte des Gebauten
Mit weißen Handschuhen zieht Sonja Pisarik eine orangenfarbene Schachtel aus einem der meterhohen Regale. Vorsichtig hebt sie den Deckel ab und ein kleines Modell der UNO-City in Wien tritt zum Vorschein. Am Boden ist der Schriftzug „Internationales Zentrum Wien, Architekt Staber“ eingraviert. „Jeder Würdenträger bekam bei der Eröffnung im August 1979 solch ein Modell in Silber. Bruno Kreisky bekam angeblich sogar eines in Gold,“ sagt Kuratorin Sonja Pisarik.
Das UNO-City-Modell ist eines von mehreren tausenden Stücken der Sammlung des Architekturzentrum Wien ( AzW). In drei ehemaligen Industriehallen in Möllersdorf südlich der Hauptstadt werden Objekte, Dokumente, Modelle und persönliche Unterlagen wie Faxe und Steuererklärungen von mehr als 80 bedeutenden Architekten des Landes sorgsam aufbewahrt – das Erbe der österreichischen Architekturgeschichte nach 1945. Für die Öffentlichkeit ist das Depot normalerweise nicht zugänglich, IMMO erhielt anlässlich des 25-jährigen Bestehens des AzW einen Einblick in die faszinierende Geschichte der gebauten Welt Österreichs.
„Im historischen Kontext wird deutlich, dass Architektur ein breiter Begriff ist und mit Politik, Ökonomie und Soziologie einer bestimmten Zeit verwoben ist“, so Monika Platzer, Leiterin der AzW-Sammlung.
Die verborgenen Geschichten der Architektur zeigen sich anhand persönlicher Dokumente. Verborgene Teile der Lebensgeschichte, der Habitus und Charakter werden daran sichtbar. Bei UNO-City-Planer Johann Staber etwa wird deutlich, dass sein Erfolg im Grund tragisch endete: Die Komplexität des Bauwerks übertraf alles, was Wien bisher an Hochhausprojekten gesehen hatte. Um den Großauftrag zu bewältigen, stellte Staber zahlreiche Mitarbeiter ein, die er nach Fertigstellung weiter beschäftigte. Da es aber an Folgeaufträgen mangelte, schlitterte der Architekt 1998 in den finanziellen Ruin. Staber wurde delogiert und lebte bis zu seinem Tod völlig zurückgezogen. „Nur im Zuge einer Notbergung konnte ein Teilnachlass gerettet werden“, erzählt Monika Platzer.
Ein „Zettelkasten“ war gewissermaßen die Basis der AzW-Sammlung – das Archiv des Architekten und Architekturkritikers Friedrich Achleitner, das 2000 von der Stadt Wien angekauft und dem AzW übergeben wurde. Der Bestand umfasst etwa rund 22.300 Karteikarten zu Objekten, 66.500 Foto-Negative und fast 600 Plandarstellungen. Seitdem hat das AzW die Sammlung aktiv weiterentwickelt. Die Sicherung von Vor- und Nachlässen spiele dabei eine zentrale Rolle.
Heute verfügt das AzW über die Vor- und Nachlässe so berühmter österreichischer Architekten wie Oswald Haerdtl, Hans Hollein, Wilhelm Holzbauer und Roland Rainer. „Jeder Nachlass ist unterschiedlich. Man muss das Ordnungssystem des Architekten verstehen“, sagt Monika Platzer. Roland Rainer etwa arbeitete völlig unstrukturiert. Die schönsten Zeichnungen bewahrte er in einer Lade auf. Platzer: „Alles andere war ein totales Chaos.“
Mindestens ein Jahr ab der Übernahme der Materialien dauert es, bis die Dokumente geschlichtet im Regal sind. Je nach Architekt sind die vorhandenen Materialien sehr unterschiedlich. Von Oswald Haerdtl (1899–1959) etwa ist eine einmalige Präsentationsmappe mit handgemalten Skizzen vorhanden. Eine davon ist der Entwurf des Heinrichhof gegenüber der Wiener Oper. Das Gebäude galt als das „schönste Zinshaus“ von Wien. 1955 wurde es abgerissen und nach einem Eigentümerwechsel von anderen Architekten erbaut.
Oder ein Kartonmodell von Hans Hollein (1934–2014) zum Portal des Kerzengeschäft Retti in der Wiener Innenstadt: Das Geschäft wurde 1966 am Kohlmarkt mit seiner bezeichnenden Aluminium-Fassade eröffnet.
Hans Hollein, der als einziger Österreicher Träger des renommierten Pritzker-Architekturpreises ist, sorgt derzeit für eine „Super-Baustelle“ in der AzW-Sammlung. 2016 übernahm die Republik Österreich den Teilnachlass von Hollein. Dieser wurde durch das Museum für angewandte Kunst (MAK) übernommen und in Form einer Dauerleihgabe dem AzW übergeben. Der Materialumfang ist überwältigend: Während ein Nachlass bei der Lagerung maximal 30 Paletten beansprucht, waren es bei Hollein exakt 263. Die Objekte – angefangen von den Steuererklärungen seit 1972 über Pläne bis hin zu Modellen – beanspruchen eine ganze Halle.
Derzeit sind AzW-Mitarbeiter mit der Aufarbeitung und einem aufwendigen Digitalisierungsprozess des Hollein-Nachlasses beschäftigt. Im Rahmen eines dreijährigen Digitalisierungsprojektes werden 250 Pläne und 25 Modelle erfasst. Dies ist allerdings nur ein winziger Bruchteil des in seiner Dimension noch nicht erfassten Umfangs des gesamten Materials. „Viele Architekten wie Hans Hollein kontrollierten Zeit ihres Lebens die Art ihrer Präsentation“, erklärt Mechthild Ebert, die für das Archiv Hans Hollein beim AzW zuständig ist. „In öffentlichen Sammlungen hingegen ergibt sich ein anderes Bild. Hollein kann nun anders gelesen und interpretiert werden.“
Um dieses andere Bild von Architekten zu bekommen, ist auch Forschung zentral. Für Forschungszwecke öffnet das AzW seine Sammlung. Monika Platzer: „Es geht nicht bloß um Verwahrung, sondern darum, neue Forschungsfragen aus dem Material zu entwickeln.“
Ein Beispiel ist eine Forschungsarbeit über Roland Rainer (1910–2004), einer der bedeutendsten Architekten Österreichs. In Zusammenarbeit mit der Akademie der bildenden Künste, der langjährigen Wirkungsstätte Rainers, wurde eine biografische Quellenerhebung durchgeführt. Ungeklärt ist nämlich seine Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus. Die ersten Erkenntnisse der Forschungen werden demnächst in der AzW-Ausstellung „Roland Rainer. (Un)Umstritten“ (bis 26.11.2018) gezeigt.
Objekte aus der AzW-Sammlung werden auch an internationale Museen verliehen. Einer der derzeit gefragtesten Nachlässe ist jener des serbischen Architekten und Architekturkritikers Bogdan Bogdanovic (1922-2010), der im Exil in Wien verstarb. Derzeit sind viele Exponate in einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York zu sehen.