Wirtschaft

Wagnis negative Zinsen

KURIER: Am Sonntag wählen wir ein neues EU-Parlament. Die Krise und die Sparmaßnahmen sorgen dafür, dass populistische Parteien am linken und rechten Rand in vielen Ländern auf dem Vormarsch sind. Erfüllt Sie das mit Sorge?

Jean-Claude Trichet: Diese Wahl ist extrem wichtig. Die demokratische Legitimation der EU-Institutionen sollte gestärkt werden – am besten durch ein aktives Parlament. Das Europäische Parlament hat bereits viele Aufgaben, sollte aber sukzessive noch mehr Verantwortung erhalten. Nebenbei: Den Medien entnehme ich, dass die Bürger in allen Ländern sehr unzufrieden mit den EU-Institutionen sind. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Sie müssten nämlich gegenüberstellen, wie viel Vertrauen die Menschen in ihre nationalen Parlamente haben. Die Zahlen sind überraschend.

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KURIER: Lassen Sie mich raten: Sie sind noch schlechter?

Trichet: Sie sind, auf die gesamte EU umgelegt, noch schlimmer! Ich war verblüfft. Alles in allem haben laut der aktuellen Umfrage 39 Prozent der EU-Bürger Vertrauen in das Europäische Parlament – bei den eigenen, nationalen Parlamenten sind es nur 25 Prozent! Die Unzufriedenheit ist in einigen Ländern verständlicherweise sehr hoch, aber das trifft alle Institutionen und nicht Europa alleine.

KURIER: Die „Fieberkurve“ der Eurokrise ist stark gesunken – die Zinskosten für einige Euro-Problemstaaten sind erstaunlich niedrig. Ist die Eurozone gesundet oder nur der Intensivstation entronnen?

Trichet: Die globalen Investoren haben erkannt, dass sie die Wahrscheinlichkeit, dass einige Länder kollabieren, pleite gehen oder aus dem Euro austreten könnten, völlig überschätzt hatten. Im Mai 2010, August 2011 und auch Mitte 2012 gab es die Vorstellung, dass eine Katastrophe sehr wahrscheinlich wäre. Das war eine falsche Annahme. Die positive Neubewertung der Investoren ist aufgrund der Datenlage sicher gerechtfertigt, das darf aber kein Anlass für Selbstgefälligkeit sein. Sicher, die Länder und die Eurozone als Ganzes haben hart gearbeitet. Aber wir müssen erst noch den Nachweis erbringen, dass wir die Eurozone effektiv und effizient steuern können und zugleich Jobs und Wachstum schaffen.

KURIER: Ihr Nachfolger Mario Draghi hat die Märkte im Sommer 2012 mit seiner berühmten Rede in London („Was auch immer nötig ist“) beruhigt. Waren Worte letztlich das effizienteste Instrument der EZB?

Trichet: Ich denke, es waren nicht allein die Worte, sondern die EZB als Institution war und ist glaubwürdig! Und obendrein gab es weitere gute Argumente. Schauen Sie sich die fünf Länder an, die unter Druck geraten waren – Irland, Griechenland, Portugal, Spanien, Italien. Als Ganzes betrachtet hatten sie 2009 ein Leistungsbilanzdefizit von rund -9 Prozent der Wirtschaftsleistung angehäuft. Jetzt ist der Wert positiv. Es waren also vier Gründe entscheidend für diesen Umschwung. Erstens: Der starke Anpassungsprozess in den Ländern. Zweitens: Die Aufsicht über die Eurozone ist viel glaubwürdiger geworden. Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt verbessert, wir haben die Prozedur gegen makroökonomische Ungleichgewichte geschaffen, wir haben die Bankenunion und wir haben den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), den es vorher auch nicht gab. Drittens: Wir wissen jetzt, dass kein Land aus der Eurozone austreten wollte und kein Land, das um Hilfe gebeten wurde, auf den Rauswurf eines anderen Landes bestanden hat.

KURIER: Es gab also den starken politischen Willen, die Eurozone zu erhalten?

Trichet: Genau, und das wurde von den Investoren völlig ignoriert. Heute sind bereits 18 Länder Mitglied der Eurozone – als Lehman Brothers (im September 2008, Anm.) kollabierte, waren es noch 15.

KURIER: Ich nehme an, der vierte Grund ist die EZB selbst?

Trichet: Ja, last but not least. Jedes Mal, wenn das normale Funktionieren der Eurozone und der Geldpolitik in Gefahr war, hat die EZB interveniert – und zwar verbunden mit starken Auflagen. Im Sommer 2012 gab es eine Phase, wo die Investoren erneut dachten, die EZB wäre nicht in der Lage zu handeln, weil der Gegenwind stärker wurde. Deshalb hat mein Nachfolger Mario Draghi bekräftigt: „Nein, wir sind immer noch da und sind bereit zu handeln.“ Die Ankündigung des Anleihenkaufprogramms OMT (Outright Monetary Transactions) war so erfolgreich, weil wir zuvor bereits interveniert hatten. Heute gibt es in den Augen der Investoren keine unmittelbare Gefahr dramatischer Risiken in der Eurozone mehr.

KURIER: Von der EZB wird jetzt erwartet, dass sie die Deflationsrisiken bekämpft. Warum sind fallende Preise so gefährlich? Für Konsumenten klingt das doch eigentlich positiv. Das ist schwierig zu erklären...

Trichet: So schwierig ist das gar nicht. Die Menschen in Österreich legen – wie überall – extrem viel Wert auf stabile Preise. Vermutlich hielten manche sogar null Inflation für erstrebenswert. Was sorgt aber eigentlich für stabile Preise? Preise ändern sich ständig, je nachdem, wie sich die Wirtschaft entwickelt und die Produktivität verbessert, etwa im Bereich der Elektronik. Einige Preise steigen also, andere fallen.

KURIER: Aber warum sind zwei Prozent Inflation besser als null?

Trichet: Der Hauptgrund ist: Wäre die Inflationsrate null oder sogar negativ, würden viele Konsumenten ihre geplanten Anschaffungen verschieben, weil sie auf niedrigere Preise warten. Dasselbe gilt für Investoren. Es wäre also ein mächtiger Anreiz, die wirtschaftlichen Aktivitäten einzustellen, und das könnte zu einer schädlichen Abwärtsspirale führen. Obendrein würde der Wert der ausstehenden Schulden bei null oder negativer Inflation größer und größer. Deshalb hat die EZB bereits vor langer Zeit festgelegt, dass eine Inflationsrate unter, aber nahe zwei Prozent ein angemessenes Ziel für Preisstabilität ist. Jetzt orientieren sich alle großen Zentralbanken der fortschrittlichen Volkswirtschaften an dieser Richtschnur.

KURIER: Eine Maßnahme, die von der EZB überlegt wird, sind negative Einlagenzinsen für Banken. Das widerspricht dem Hausverstand, der sagt: Wenn ich jemandem Geld borge, erhalte ich Zinsen dafür - und muss nicht noch etwas draufzahlen. Könnten Sie sich einen Fall vorstellen, wo das sogar für den einfachen Sparer eintreten könnte?

Trichet: Nein, nein. Diskutiert wird das nur für die Bankeinlagen bei der EZB. Die Banken haben momentan überschüssige Liquidität, die zur Zentralbank zurückfließt und dort eigentlich unnütz ist. Die Überlegung ist deshalb, dass man die Zinssätze für Übernachtkredite (EONIA - Euro OverNight Index Average, Anm.) drückt. Das wäre ein Anreiz für die Banken, einander und ihren Kunden mehr Kredite zu geben. Das wäre eine sehr weitreichende Entscheidung, etwas, das noch keine Zentralbank einer großen, fortschrittlichen Volkswirtschaft bisher unternommen hat.

KURIER: Also würde die EZB damit Neuland betreten?

Trichet: Nein, nicht ganz. Einige Zentralbanken haben solche Beschlüsse bereits getroffen, aber noch keine große Zentralbank.

KURIER: Ein Telefonat zwischen Nationalbank-Gouverneur Ewald Nowotny und Ihnen hat im Dezember 2009 eine wichtige Rolle gespielt, als die Kärntner Hypo Alpe Adria Bank notverstaatlicht wurde. Sie haben die Regierung überzeugt, dass die Rettung der Bank absolut unumgänglich wäre. Im Rückblick betrachtet. Wäre es nicht besser gewesen, die Bank pleite gehen zu lassen?

Trichet: Es gab einen Zeitpunkt, da stand das gesamte Finanzsystem vor dem Kollabieren. In allen Ländern. Das war, nachdem der Kollaps von Lehman Brothers einen Finanztsunami ausgelöst hatte. Wäre das eingetreten, hätte es eine große Depression verursacht, schlimmer noch als 1929 und 1930. Deshalb kamen damals die Staats- und Regierungschefs aller Industriestaaten überein: „Ich werde nicht zulassen, dass eine systemrelevante Finanzinstitution in meinem Land kollabiert.“ Die Botschaft, die ich an die Regierungen aller Länder gerichtet haben, war: Die Situation ist sehr, sehr ernst. Das galt für Deutschland oder Frankreich ebenso wie für die Niederlande. In Belgien wurde ich sogar gebeten, persönlich dem Ministerrat beizuwohnen, um zu erklären, was die Pleite einer bestimmten Bank bedeuten würde.

Seitdem arbeiten wir intensiv daran, ein widerstandsfähigeres Finanzsystem zu erhalten. Das wichtigste Ziel ist: In Zukunft sollte das Finanzsystem stabil genug sein, sodass wir einen neuen Fall Lehman zulassen könnten – ohne dramatische Folgen für das System und ohne Kosten für die Steuerzahler.

KURIER: In Österreich soll eine Untersuchungskommission die Umstände der Hypo-Alpe-Verstaatlichung aufarbeiten. Wären Sie bereit, Auskunft zu geben, wenn Sie darum gebeten würden?

Trichet: Bisher waren die Spielregeln so, dass die nationalen Notenbank-Gouverneure den nationalen Parlamenten Rede und Antwort stehen.

KURIER: In Österreich wird das keine parlamentarische Untersuchungskommission sein, sondern eine Art Expertenpanel, das vom Finanzministerium einberufen wurde.

Trichet: Schauen Sie: Die Eurozone ist eine Gruppierung von 18 Ländern. Der Präsident der Europäischen Zentralbank erläutert die EZB-Politik gegenüber dem Europäischen Parlament, dem Ecofin und der Eurogruppe. Und die nationalen Notenbank-Gouverneure erklären diese gegenüber ihren jeweiligen Institutionen.

Jean-Claude Trichet (71) war als Festredner des Börse-Preises 2014 (die Preisträger finden Sie hier) zu Gast in Wien

Bei der EZB-Zinssitzung dreht sich meist alles um den Leitzinssatz (main refinancing rate). Diesen Zinssatz – derzeit 0,25 Prozent – müssen Banken zahlen, wenn sie sich bei der EZB Geld borgen. Jetzt sorgt der Einlagenzinssatz (deposit rate) für große Schlagzeilen: Er liegt bei 0 Prozent und könnte im Juni erstmals negativ festgesetzt werden. Banken müssten dann eine „Strafgebühr“ zahlen, wenn sie Geld bei der EZB parken anstatt es zu verleihen.